Christine Sun Kim
Cues on Point
17.2. – 16.4.2023
Christine Sun Kims Kunst ist voller Rhythmus und Dynamik. Ob kleinformatige Zeichnungen oder raumfüllende Wandzeichnungen, ob Internet-Memes, Textbotschaften im öffentlichen Raum oder Spruchbanner, die von Flugzeugen über den Himmel gezogen werden: Die Arbeiten sprühen vor Energie und scheinen die Beengung und Beschränkungen ihres Raumes sprengen zu wollen. Ihre Zeichnungen sind grafisch und reduziert und können im Wesentlichen in zwei Kategorien unterteilt werden: Eine verwendet Infografiken, während die andere das formale Repertoire von Comics übernimmt, vor allem Geschwindigkeitslinien zur Vermittlung von Aktion und Reaktion.
Sprache, Sound, Körper, Identität und Diaspora, Übersetzung, Hierarchisierung, Ausschlussprinzipien und gesellschaftliche Normen sind einige der wesentlichen Themen, denen sich die Künstlerin in ihrem formal vielfältigen Werk widmet. In vielen ihrer Arbeiten teilt sie dem Publikum mit, wie es sich anfühlt, von der Mehrheitsgesellschaft der Hörenden strukturell und systematisch ausgeschlossen zu werden; immer den Regeln der anderen ausgesetzt zu sein und sich viele Möglichkeiten erst erkämpfen zu müssen. Kims Kunst ist unverkennbar politisch: Ihr zentrales Anliegen ist die Forderung nach mehr Sichtbarkeit für Taube* und eine breitere Anerkennung des Zugangs für Menschen mit Behinderung im Allgemeinen.
Die Gebärdensprache ist ein konstantes formales und ästhetisches wie inhaltliches Thema. In den Arbeiten der letzten Jahre hat Kim zunehmend eine Verbindung zwischen Notationssystemen, wie sie in Musik und Tanz verwendet werden, und ihrer eigenen grafischen Darstellung von Gebärdensprache hergestellt. In ihren Arbeiten und Lecture Performances erforscht die Künstlerin geschickt die grundlegenden Strukturen der amerikanischen Gebärdensprache und zelebriert ihre inhärente Schönheit und ihre kraftvolle Rolle als Teil Tauber Identität.
Neben den ästhetischen Aspekten anderer als auditiver Kommunikationsformen legt Kim den Fokus auf Übersetzungsprozesse und all ihre Facetten. Ihre Praxis umfasst mehrere Sprachen, wobei sie Konvergenz- und Divergenzpunkte zwischen ASL und Englisch aufspürt und sich oft mit beiden gleichzeitig beschäftigt. Sprache –gesprochene wie gebärdete, geschriebene wie gesungene ist nie starr und unveränderlich, sondern fluide und ständig im Wandel.
In der Secession zeigt die Künstlerin aktuelle Arbeiten, in denen sie ihre Auseinandersetzung mit Echos und Schulden fortsetzt. Echos sind ein Sinnbild für die Verzögerungen, Überlagerungen und Verzerrungen, die für die Künstlerin den Kommunikationsprozess mit hörenden Menschen und das Leben in einer hörenden Dominanzgesellschaft charakterisieren: Die Kommunikation mithilfe von Gebärdendolmetscher*innen (aber auch schriftlicher Hilfsmittel) ist geprägt durch Pausen, Warten und die Ungewissheit, wie korrekt die eigene Botschaft letztendlich „übersetzt“ wird.
In ihrer Auseinandersetzung mit Schulden beschäftigt sie sich mit gesellschaftlichen Übereinkünften, für die Schuldenmachen selbstverständlicher Teil des Lebens ist; der Tilgungsdruck wird als notwendiges Übel hingenommen. Ihre Wahrnehmung der großen Differenz in der Wirtschaftsordnung zwischen ihrem Geburtsland, den USA, und ihrer Wahlheimat Deutschland hat diese Auseinandersetzung begünstigt. Nichtsdestotrotz betont Kim, dass Behindertenrechte in den USA wesentlich weiter entwickelt sind als beispielsweise in Europa. Sie fasst das Thema Schulden weiter und beschäftigt sich mit gesellschaftlicher Schuld aber auch privater Schuld in Form von Verpflichtungen und Verantwortung.
Kims Zeichnungen verbinden Schrift und Bild, die Zweidimensionalität des Blattes, mit der Dreidimensionalität des Raumes und des Körpers. Auf den Bildern geschriebene Worte wie „HAND“ und „PALM“ verweisen auf Komponenten der Gebärdensprache. Die Formen sind daher nicht zufällig, sondern ein Ergebnis dieses Beziehungsdreiecks.
Im gewohnten Schwarz-Weiß gehalten, ist die Komposition der Ausstellung in der Secession aus einem monumentalen Wandbild, Videos und Zeichnungen rhythmisch und melodisch und zugleich dramatisch, zwischen lauten und leisen Zonen abwechselnd. Die Wandmalerei, die auf der Kohlezeichnung Long Echo (2022) basiert und sich über den gesamten rückwärtigen Teil des Raumes erstreckt, schreit uns fast an und überwältigt uns in ihrer physischen Präsenz, während sich die Zeichnungen aus der Serie Echo Trap in einer rhythmischen, beinahe pulsierenden Bewegung befinden. Die Energie des Raumes findet sich im Kleinen auch in jeder der großformatigen Kohlezeichnungen wieder: Die schwarzen Flächen aus dick aufgetragener Kohle sind nicht homogen, sie sind voller Tiefe und zeigen auch Spuren des Entstehungsprozesses in Form von Abdrücken des Kohlestiftes und Verschmierungen durch die Hand der Künstlerin.
Im Zentrum der Ausstellung steht die Zweikanal-Videoarbeit Cues on Point (2022), die in der Secession erstmals gezeigt wird. Sie ist Teil von Kims Auseinandersetzung mit ihrer Darbietung beim Super Bowl 2020, wo die Künstlerin eingeladen wurde, die amerikanische Nationalhymne The Star-Spangled Banner und America the Beautiful, die vor Beginn des Finalspiels im Stadium von Demi Lovato bzw. Yolanda Adams aufgeführt wurden, in Amerikanischer Gebärdensprache parallel zu den Sängerinnen vor mehr als 100 Millionen Zuschauer*innen aufzuführen. Dass die Kameras für die ASL -Fernsehübertragung mitten in ihrer Darbietung von ihr auf die Spieler schwenkten und Taube Menschen somit nicht mehr den Liedern folgen konnten, war nicht nur für die Künstlerin eine Riesenenttäuschung. Die beiden Videos zeigen nicht die eigentliche Performance der Künstlerin, sondern den Zeichencode, den sie zusammen mit der ASL-Gebärdendolmetscherin Beth Staehle erarbeitet hatte, die ihr während der Performance signalisierte, damit sie synchron mit den Sängerinnen performen konnte. Mit diesen einfachen Gesten eröffnen die beiden Videos sowohl Komplexität als auch Schönheit in der Kommunikation zwischen Hörenden und Tauben.
In der Zeichnung Sign Sing (2022) verweist Kim auf die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Singen und Zeigen ‒ beides sind offensichtlich Ausdrucksformen, allerdings ganz und gar nicht dieselben. In ihrer Erfahrung, ob bei der Performance beim Super Bowl oder in der Beobachtung eines TikTok-Trends, bei dem hörende Influencer*innen populäre Songs mit inkorrekter Gebärdensprache rezitieren (darauf bezieht sich die Arbeit Tiktok Dilemma, 2022), werden Laut und Zeichen miteinander gleichgesetzt, ohne die Tatsache zu beachten, dass die eine Ausdrucksform die andere zum Schweigen bringt.
*Wir folgen in der der Verwendung der Großschreibung von Taub dem Wunsch der Künstlerin, die auf Carol Padden und Tom Humphries, Deaf in America: Voices from a Culture (1988) verweist, wo diese schreiben: „Wir verwenden kleingeschriebenes „taub“ für den gehörmedizinischen Zustand des Nichthörens und großgeschriebenes "Taub" für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe: taube Menschen, die eine gemeinsame Sprache – Amerikanische Gebärdensprache (ASL) – sprechen und eine Kultur teilen.“
Digitale Publikation
wurde 1980 in Orange County, Kalifornien, geboren. Sie lebt und arbeitet derzeit in Berlin.