menü
de / en

Agency of Singular Investigations
On New Thinking And Other Forgotten Dreams
1.12.2023 – 25.2.2024

https://secession.at/items/uploads/images/1701437606_1nklle8MgVA9.jpg

Agency of Singular Investigations, On New Thinking And Other Forgotten Dreams, Ausstellungsansicht, Secession 2023, Foto: Lisa Rastl

Agency of Singular Investigations (ASI) wurde 2014 von Anna Titova und Stanislav Shuripa gegründet, um gegenüber den dramatischen Veränderungen der politischen Realität und kulturellen Atmosphäre in Russland Stellung zu beziehen und angesichts des postfaktischen Zeitalters über andere Möglichkeiten von Bildern und Kommunikationsmitteln für die Konstruktion von Identitäten und Weltanschauungen nachzudenken. 

 

In der Secession zeigt ASI die neue Installation On New Thinking and Other Forgotten Dreams. Sie ist der erste Teil ihres breit angelegten Forschungsprojektes The Park of Mind Revolutions, das sich mit der Geschichte der Subjektivität und Formen und Funktionsweisen des Selbstverständnisses Russlands im 20. und 21. Jahrhundert auseinandersetzt. Die Installation ist als Dialog zwischen dem Arbeiter Grigoriy Zamzin und einer Essiggurke über die Bedeutung der jüngsten Geschichte Russlands konzipiert und umfasst vier Skulpturen, ein wandfüllendes Diagramm und einen blauen Teppich. Inspiriert von der Literatur des magischen Realismus der Zwischenkriegszeit verwenden die Künstler*innen gezielt fantastische Elemente, irrationale Geschehnisse und Metaphern, um die Komplexität der historischen Entwicklung mit kritischer Haltung einzufangen. Indem sie in ihren Werken mit hybriden Realitätsebenen und der Kollision historischer Kräfte spielen, legen sie jene Kräfte offen, die das psychische, technische, soziale und gesellschaftliche System prägen.

 

Lennon-Lenin (2023). Die abgenutzte Leninbüste ist ein tatsächliches Fundstück aus der Müllhalde in Norilsk, jener sibirischen Stadt, die als ehemaliger Gulag bis heute vom Nickelanbau lebt und wo 2020 aufgrund tauender Permafrostböden und mangelnder Wartung durch ausgetretenes Öl eine der größten Umweltkatastrophen Russlands stattfand. Durch die Kombination mit der aufgesetzten Perücke und der runden Sonnenbrille stellt sich nicht nur die Frage nach wechselnden Idolen, sondern vor allem die nach dem wahren Kern hinter der Verkleidung. Präsentiert in einem höhlenartigen Fenster in der Vitrine im Stiegenhaus fungiert die Skulptur als Vorspiel und als ein widerhallendes Gespenst der Erzählungen, die sich in der Ausstellung entfalten.

 

Descend (In Conversation with Grigoriy) (2023). In der Mitte des Raums liegt die Gurke zusammen mit dem Modell eines Wolkenkratzers, der Replik eines der Arkhitektons von Kasimir Malewitsch, konserviert und vergessen im trüben Wasser eines Aquariums. Die Gurke ist als Teilnehmer am Dialog über die Bedeutung der Geschichte gedacht: Der Arbeiter Grigoriy Zamzin geht auf den Balkon seiner Wohnung und fragt die Gurke, die dort zwischen anderen halb vergessenen Gegenständen in ihrem Glas konserviert wird, wie die Realität zu dem wurde, was sie ist. Genauer gesagt: Wie hat sich das postsowjetische Russland vom anfänglichen Befreiungsimpuls der Gorbatschow’schen Ideen der Perestroika und des Neuen Denkens die gegenwärtige Katastrophe mit dem Angriffskriegs gegen die Ukraine und den Repressionen entwickelt? Die Gurke erzählt die Geschichte des Abgleitens der ursprünglichen emanzipatorischen Energie (auf fast neoplatonische Weise) durch sich verfestigende soziokulturelle und psychopolitische Netzwerke, die in den Jahrzehnten seit der Perestroika-Ära Mitte der 1980er-Jahre aufgebaut wurden. 

 

Grigoriy Zamzin. Die Hauptfigur ist in der Ausstellung abwesend und wird selbst zu einem Meer, dargestellt durch den raumfüllenden blauen Teppich. Die Künstler*innen sehen Zamzin in der literarischen Tradition des „kleinen Mannes“. Anknüpfend an ihre Arbeit Grand Project K (2021), in der sie eine Parallelrealität verhandeln, erscheint Gregory Zamzin auch hier als Fabrikarbeiter, der in einer untergeordneten Rolle an einem Projekt beteiligt ist, das mit dem größenwahnsinnigen sowjetischen Plan der 1960er-Jahre zusammenhängt, den Lauf der Flüsse in Sibirien umzukehren, um Zentralasien fruchtbar zu machen. Da er katastrophale Ergebnisse vorhersagen kann, geht Zamzin in seinen Träumen noch weiter und erschafft die Idee einer neuen – und flachen – Erde.

 

Lavender Mist of History (2023). Der Dialog zwischen Grigoriy und der Essiggurke wird in dem großen Diagramm dargestellt, das gezeichnet ist, als sei es die Kritzelei eines Kindes. Der Titel des Werks bezieht sich auf Jackson Pollocks berühmtes Allover-Drip-Gemälde Number One (Lavender Mist) (1950). Es zeigt eine Geschichte des Abstiegs und der Verknöcherung. Sie wird von der Essiggurke nicht in linearer oder hierarchischer Form erzählt sondern als ein vernetztes Modell, das verschiedene Perspektiven auf Ideen und Kräfte in turbulenten Momenten der Geschichte aufzeigt. Das Diagramm ist nach Jahrzehnten gegliedert. Es beginnt mit dem Versuch der 1980er-Jahre, eine offenere und vielfältigere Welt zu schaffen, und endet mit der Katastrophe der 2020er-Jahre und jener Unterdrückung der Bürgerproteste in Russland, die auch durch die Skulptur Dance verkörpert wird.

 

Dance (2023). Bei der schwebenden Figur handelt es sich um das ausgeschnittene Foto einer jungen Frau, die von der Polizei bei einer Antikriegsdemonstration in Moskau im Jahr 2022 brutal festgenommen wurde. Ihre Bewegung gleicht der einer Tänzerin auf einer Rave-Party in den 1990er-Jahren. Dieselbe Pose steht hier für Befreiung und Unterdrückung und verkörpert zwei eigentlich nahe beieinander liegende und durch den verhängnisvollen Wandel von Freiheit und Hoffnung zu Krieg und Terror doch gegensätzliche historische Epochen.

 

Towards the New Flat Earth (2023). Die Skulptur verknüpft El Lissitzkys Lenin-Tribüne (1920) mit drei Illustrationen von Elefanten. Sie bezieht sich auf die Fiktion der Konstruktion einer Flachen Erde als Höhepunkt einer konservativen technologischen Utopie. Materielle Basis für diese Verwandlung sind drei gigantische elefantenförmige Wolken aus „intelligentem Staub“. Die Zeichnungen stammen von Vladimir Konashevich, einem bekannten Illustrator der 1930-50er-Jahre. Durch seine besondere Art der Schattierung führte er den modernistischen „abgeflachten Raum“ ein und aktivierte den weißen Hintergrund derart, dass die Zeichnung über ihm zu schweben scheint. ASI gehen davon aus, dass Ilya Kabakov und andere Künstler aus dem Kreis der Moskauer Konzeptualisten, die ihr Einkommen lange mit Kinderillustrationen verdient haben, Konashevichs Arbeiten kannten und dass seine illusionistische Räumlichkeit Kabakov inspiriert hat, seine Arbeiten zu Installationen auszubauen. Russische Geschichte erscheint hier als offene Abfolge revolutionärer Visionen. Zugleich öffnen die Zitate der Kunstwerke die Perspektive auf Utopie an sich und das Potenzial gegenwärtiger Handlungsformen, nicht nur von Künstler*innen.

 

Anna Titova (geboren 1984) und Stanislaw Shuripa (geboren 1971) leben und arbeiten gegenwärtig in Paris.

 

Die Arbeiten von Agency of Sigular Investigations wurden unter anderem auf der 1. Biennale Warszawa (2019), der 5. Ural Industrial Biennial of Contemporary Art (2019), der 1. Riga International Biennial of Contemporary Art (2018), der 1. Garage Triennial of Russian Contemporary Art in Moskau (2017) und der Manifesta 10 in St. Petersburg (2014) gezeigt. Im Jahr 2015 eröffneten sie einen experimentellen Raum im Zentrum für Kreativwirtschaft "Fabrika" (Moskau), der der Erforschung der narrativen Räume zwischen Kommunikation und künstlerischer Praxis gewidmet ist.

 

Titova und Shuripa lehren am unabhängigen Institute of Contemporary Art (ICA) in Moskow, wo Shuripa seit 2018 die Position des Rektors innehat. Ihre Texte erschienen in einer Reihe von internationalen Publikationen, darunter Russia: Art Resistance and the Conservative-Authoritarian Zeitgeist (Routledge, 2019) und Zeitschriften wie Paletten (Nr. 327–328, 2022) und Ord&Bild (Nr. 2–3, Juli 2022). Seit 2006 gehört Shuripa dem Redaktionsausschuss des Moscow Art Magazine an. 

Video
Publikation

Agency of Singular Investigations, On New Thinking And Other Forgotten Dreams, Publikation 

Digitale Publikation 

Agency of Singular Investigations

Agency of Singular Investigations, Foto: Iris Ranzinger

Anna Titova und Stanislav Shuripa sind MQ Artists-in-Residence.



Künstler*innen
Agency of Singular Investigations

Anna Titova, geboren 1984, und Stanislav Shuripa, geboren 1971, leben und arbeiten in Paris.

Programmiert vom Vorstand der Secession

Kuratiert von
Annette Südbeck (Secession)

Vereinigung bildender Künstler*innen Wiener Secession
Friedrichstraße 12
1010 Wien
Tel. +43-1-587 53 07