Karrabing Film Collective
They pretending not to see us...
28.4. – 18.6.2023
Das Karrabing Film Collective ist ein basisdemokratisches Medienkollektiv, bestehend aus rund dreißig Indigenen Filmemacher*innen aller Generationen und Elizabeth Povinelli, die die Mitglieder und ihre Eltern und Großeltern seit fast vierzig Jahren kennt und mit ihnen arbeitet. Das Land der Karrabing erstreckt sich entlang der Küste des Northern Territory in Australien, von der Halbinsel gegenüber dem Hafen von Darwin bis zur Anson Bay. Karrabings Filme reflektieren die multidimensionalen Beziehungen untereinander, zu ihrem Land, den Vorfahr*innen, zu menschlichem und mehr-als-menschlichem Leben. Sie erzählen von den schwierigen Beziehungen zur australischen Regierung, den anhaltenden Folgen des weißen Siedlerkapitalismus, den Repressalien durch Polizei und Behörden und der Nicht-Anerkennung Indigener Lebensweisen.
Im Emmiyangal, einer der traditionellen Sprachen der Mitglieder von Karrabing, bedeutet „karrabing“ „Ebbe“: die beste Zeit zum Fischen, Krabbenfangen und Muschelsammeln, da Riffe, Buchten und Mangroven zugänglich sind und viele der Meerestotems der Gruppe zutage liegen. So bezeichnet „karrabing“ einen Stand der Gezeiten, aber auch eine Idee und verweist auf uralte Verwandtschaftsbeziehungen und ökologische Zusammenhänge, die sich wie ein Netz über das Land erstrecken, und zugleich auf die Gewaltsamkeit westlicher Formen von Eigentum, das durch Grenzen definiert ist. Das Filmemachen erfüllt für die Karrabing mehrere Funktionen. Einerseits ist es eine Form, selbst initiativ und handlungsmächtig zu sein und die eigenen Geschichten zu erzählen. Andererseits dient es als „Schule“ für die Kinder – beim Filmen wird das Wissen von Generation zu Generation weitergegeben, auf den Reisen zu Ausstellungen und Filmvorführungen lernen sie die Welt kennen. Nicht zuletzt erfüllt es auch ganz pragmatische Funktionen: Die Filme sind Anlässe zusammenzukommen, die Vision der Gruppe zu stärken und Land zu bereisen und so bei der Arbeit an den Filmen den Spuren der menschlichen und mehr-als-menschlichen Vorfahren zu folgen. Diese Form der Pflege, das Besuchen der Totem-Ahn*innen, verhindert, dass sie sich vernachlässigt fühlen und „eifersüchtig“ werden. Das Land zu kennen bedeutet, sich in es „hineinzuschwitzen“. An einem Ort zu gehören heißt, in seiner Gegenwart zu existieren.
NO STORYBOARD NO SCRIPT WE MAKE OUR FILMS FROM OUR LIFE AND LANDS FOR OUR LIFE AND LANDS.
Dieses künstlerische Manifest beschreibt die Arbeitsweise des Kollektivs und seinen Zugang zum Filmemachen. In der Tradition einer Oral History entwickelt die Gruppe ihre Ideen zu den Filmen gemeinschaftlich, in Form von Gesprächen, gefilmt wird meistens mit iPhones. Im Lauf der Jahre hat das Karrabing Film Collective eine charakteristische Filmsprache entwickelt, in der Überlagerungen und Überblendungen auf die mehrdimensionalen Handlungsstränge verweisen und der Gleichzeitigkeit der Zeiten im täglichen Leben der Menschen Rechnung tragen. Genauso wenig wie die „ancestors“, die Vorfahr*innen, vergangen sind, sind Rassismus und Kolonialismus für die Indigene Bevölkerung Vergangenheit.
Im Grafischen Kabinett der Secession zeigt das Karrabing Film Collective erstmals seinen neuesten Film Night Fishing with Ancestors (2023, 25 min.). „Der Film thematisiert, welche andere geschichtliche Entwicklung möglich gewesen wäre, wenn die Europäer*innen nie von unserem Land Besitz ergriffen und die australische Urbevölkerung weiterhin mit den südsulawesischen Makassaren Nahrung, Erzählungen und andere Dinge getauscht hätten. Wir glauben, die Geschichte hätte einen wunderbaren Verlauf genommen. Unglücklicherweise kamen die Europäer*innen und sie kommen weiterhin, eine Katastrophe nach der anderen. Schon der bloße Gedanke daran lässt einem die Haare zu Berge stehen.“(1)
Der in sechs Kapitel unterteilte knapp 25-minütige Film spannt einen Bogen von der Zeit vor der europäischen Kolonisierung, die anhand des freundschaftlichen Austauschs mit den benachbarten Makassaren veranschaulicht wird, über die Ankunft Captain Cooks im Jahr 1770 zu den in der Folge aus dem Kolonialismus resultierenden Traumata der Indigenen Bevölkerung durch Massaker, Seuchen und Vertreibung, zum Gold- und Diamantenrausch in der Vergangenheit bis hin zum exzessiven Bergbau der Gegenwart und er lässt am Ende auch die spürbaren Veränderungen durch den Klimawandel nicht aus.
Im Aufgang zum Ausstellungsraum verweisen wandfüllende Bild-Text-Collagen in der für Karrabing charakteristischen Technik des Überblendens auf zentrale Probleme, mit denen Indigene Völker seit Beginn des Kolonialismus bis heute konfrontiert sind. Historische Fotografien und Landkarten, Videostills und Texte gehen ineinander über und erzählen von historischem und aktuellem Unrecht, von kolonialen Machtverhältnissen und vom Streben nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Die Texte sprechen eine klare Sprache: „They pretend not to see us“, „white people only want what is valuable in their eyes“, „then they tried to massacre us so we wouldnt be there“, „another history still exists in the sands“.
(1) Natasha Bigfoot, Katrina Lewis-Bigfoot, Rex Edmunds, Cecilia Lewis, Elizabeth A. Povinelli im Gespräch im dem zur Ausstellung erschienenen Buch.
Im Buch zur Ausstellung geben Mitglieder Einblicke in den Entstehungsprozess und die Hintergründe ihres jüngsten Films. In Form einer Bild-Text-Collage erfahren wir von den von Ahn*innen errichteten Fischfallen, von der Verbundenheit mit dem Land und den Bemühungen, die eigenen Traditionen und Mythen an die Kinder weiterzugeben, auch mithilfe ihrer Filme. In einem ausführlichen Essay positioniert der Anthropologe, Filmemacher und Aktivist Massimiliano Mollona die Filme des Karrabing Film Collective ausgehend vom Third Cinema innerhalb des Indigenen Kinos oder Fourth Cinema, das als Instrument der Dekolonisation den Weg zeigt, „den Imperialismus zu verlernen“.
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