Jean-Luc Moulène
The Secession Knot (5.1)
6.4. – 18.6.2017
What goes beyond the exhibition as an artwork is the program as an artwork.
"Seit über dreißig Jahren erkundet Jean-Luc Moulène in seinem thematisch und medial breit gefächertem Œuvre das Wesen künstlerischer Arbeit und was es bedeutet, Autor eines Kunstwerks zu sein. Er arbeitet mit einer Vielzahl unterschiedlicher Materialien – von industriell hergestellten bis zu organischen oder vorgefundenen – und in Medien wie Fotografie, Film, Malerei, Skulptur und Installation. Interdisziplinäre Kollaborationen schätzt Moulène vor allem bei Arbeiten, die sich an der Schnittstelle von Kunst und Industriedesign bewegen. Grundsätzlich zieht sich sein Bewusstsein über das Verhältnis von Kunstwerken als Ware und als Teil der Warenzirkulation durch das gesamte Werk. Die Definition seiner Skulpturen als Objekte und die Bezeichnung seiner Werke als Produkte verweist auf die diesbezügliche Sensibilität des Künstlers. Genau wie für Moulène Fotografie zwischen Medium und Kunst oszilliert, sieht er seine Objekte im Status zwischen Skulptur und Produkt, seine Fotografien wiederum als post-fotografische Dokumente.
Moulène, der sich selbst als Poet bezeichnet, ist neben Poesie von Mathematik – genau genommen von der Mengenlehre – inspiriert, in der er eine Metapher für sozialen Raum sieht. Beobachtung und Analyse dieses sozialen oder gesellschaftlichen Raumes, seiner Formen und Überschneidungen mit individuellen Räumen kennzeichnen viele seiner Arbeiten. In den letzten Jahren wurde seine künstlerische Praxis zunehmend objektbezogen und materialspezifisch. Die besonderen Qualitäten eines Materials und vor allem seine materialspezifischen Bearbeitungsmöglichkeiten reizen ihn, diese an die Grenze zu führen. Dieses Ringen um Form und Ausdruck veranschaulicht seine Vorstellung von Kunst als einer Konfliktzone: das Feld der Kunst ist für ihn kein friedliches: Ein Kunstwerk enthält für ihn stets „ja“ und „nein“ und es ist die Aufgabe der BetrachterInnen, die jeweils eigene Position zu finden und zu definieren.
Aus einer Ausstellung entwickelt sich die nächste, und so beinhaltet das in der Secession Gezeigte eine Resonanz seiner kürzlich zu Ende gegangenen Schau im Pariser Centre Pompidou, die Moulène unter das Thema „Ähnlichkeit und Knoten“ gestellt hatte. Ein „Raumknoten“ aus abwechselnd schwarz und gelb lackierten Konstruktionsbrettern bildet das Kernstück von Moulènes Ausstellung im Hauptraum der Secession. Das verschlungene hölzerne Band zieht sich über Wände, Decken und Böden und überschneidet sich dabei insgesamt fünf Mal – auf diese fünffache Kreuzung bezieht sich die „5“ im Titel. Das hölzerne Band strukturiert den Raum und unterteilt ihn in Segmente unterschiedlicher räumlicher Qualitäten, in denen Moulène Objekte platziert, die großteils vor Ort entstanden sind.
Der Wechsel von schwarz und gelb erzeugt einen beinahe hypnotisierenden Rhythmus, der von unterschiedlichen Holzlängen sowie der Materialität und der Qualität der Farben verstärkt wird. Jede Ecke, jede Raumüberspannung stellt eine spezifische konstruktive Problemstellung dar und bedarf einer individuellen Lösung. Das Schwarz der Bretter verdankt seine intensive und satt-glänzende Oberfläche einem doppelten Anstrich mit Teerfarbe, während die Strahlkraft der Gelben von einer kräftigen Neonfarbe rührt. Beide Farben haben darüber hinaus symbolische Bedeutung: Bitumen repräsentiert Materie und Neongelb das geschriebene Wort und Sprache. Zusammen ergeben sie die markanteste und deshalb effizienteste Farbkombination in der Typografie.
Der Knoten – seine mathematische Funktion sowie seine symbolische Bedeutung – wurde von Moulène schon in zahlreichen Werken behandelt. Er überträgt die Knotentheorie als mathematisches System zur Beschreibung komplexer Situationen auf die Kunst und nähert sich so ihrer Komplexität. Im Knoten sieht er ein Prinzip, das der gegenwärtig verbreiteten binären Denkweise zuwiderläuft: Er hat kein Innen und kein Außen, keinen Anfang und kein Ende. Der Knoten in der Secession organisiert vordergründig den Raum und ist letztlich doch eine Metapher. Moulène beschreibt das Verhältnis zwischen der Architektur und dem Knoten als eines zwischen Beherrscher und Beherrschtem. Was auf dem Spiel steht, ist letztendlich die Freiheit.
Das anlässlich der Ausstellung konzipierte Künstlerbuch Brèves ist gleichzeitig Exponat der Ausstellung und „Programm“ für die ausgestellten Objekte, die sich rätselhaft und ephemer innerhalb der vom Raumkonten geschaffenen Felder ausbreiten und Ideen oder Formen der Ausstellung aufnehmen und weiterführen. Der menschliche Körper und seine Abwesenheit, Volumen, Oberflächen und Grenzen – auch Konflikte – sind wiederkehrende Motive. „Brèves“ sind eigentlich Kurznachrichten in Printzeitungen, Moulène bezeichnet damit von ihm überarbeitete Zeitungsbilder. Ausgerüstet mit einem Vierfarben-Kugelschreiber begann der Künstler vor einigen Jahren als Zeitvertreib, inhaltlich oder formal interessante Bilder zu bearbeiten, indem er beispielsweise Motive durch Ergänzungen wiederholt, Formen fortzeichnet oder Elemente durch Übermalen zum Verschwinden bringt. Die Sujets decken ein weites Spektrum ab, das von höchst politischen Themen wie globalen Protesten, Umweltkatastrophen, französischer Innenpolitik, Wissenschaft und Forschung bis hin zu Bildern reicht, die formal und ästhetisch für den Künstler relevant sind.
geboren 1955 in Reims, lebt und arbeitet in Paris.