Clegg & Guttmann
Mach vs. Boltzmann
3.3. – 23.4.2006
Individuelle Erfahrung und statistische Berechnung – das sind die Pole, zwischen denen sich Ende des 19. Jahrhunderts eine Debatte abspielte, die über ihren philosophischen Gehalt hinaus das politische Denken der Zeit ebenso beeinflusste wie die Durchsetzung modernistischer Kunst. Wenn Clegg & Guttmann in der Secession diese Diskussion anhand der Positionen Ernst Machs und Ludwig Boltzmanns rekonstruieren, hat dies unmittelbar mit der Geschichte des Hauses zu tun – nicht im Sinne einer retrospektiven Darstellung, sondern als Einladung, sich Aspekten der Debatten des Wiener Kreises mit dem eigenen Leibe auszusetzen: Acht Stationen bieten Übungen an, die auf die Problemstellungen referieren, zu denen ein Künstlerbuch wissenschaftliche, historische und intellektuelle Hintergründe liefert.
Die Ausstellung schließt an frühere Arbeiten des Künstlerduos an, bei denen sich Funktionen und Funktionalisierungen historischer, öffentlicher und institutioneller Räume überschnitten. Ob sie Strukturen des ersten internationalen zionistischen Kongresses rekonstruieren, für Berlin ein Monument for Historical Change entwerfen oder Bibliotheken einrichten, die unkontrolliert zugänglich sind: Sie nehmen in jedem Fall die BetrachterInnen als BenutzerInnen ihrer Arbeiten in die Pflicht, sich diese Orte als historische und öffentliche anzueignen.
So auch in der Secession: Die Ausstellung von Clegg & Guttmann ist – um Ernst Machs Begrifflichkeit zu benutzen – eine ideelle Konstruktion, bestehend aus einer räumlichen und zeitlichen Komposition in acht Teilen. Aus der Sichtweise von Ludwig Boltzmann wiederum lässt sie sich als eine vom frühen Modernismus angeregte Abfolge von Wahrnehmungsübungen verstehen, die die kognitiv-emotionelle Versöhnung mit dem Chaos zu fördern suchen. Die Installation kann wie ein Parcours verstanden werden: Manche der Übungen wenden sich an Einzelpersonen, die sich beipielsweise am Schlagzeug dem Rhythmus einer Maschine anpassen oder verweigern können; andere sind in Gruppen durchzuführen, wenn etwa das „Gefangenendilemma“ mit dem eigenen Körper als Spielfigur nachgestellt werden kann.
Die Secession selbst hatte Teil an den Auseinandersetzungen, die Thema der Ausstellung sind: Wenn Clegg & Guttmann die Debatten zwischen Mach und Boltzmann nachzeichnen, so benennen sie damit auch jene modernistischen Kontexte, die sich um die Jahrhundertwende in Absetzung von der Gesellschaft der österreichisch-ungarischen Monarchie gebildet hatten und die auch zu der künstlerischen Abspaltung führten, der die Secession ihre Existenz verdankt. In dieser Hinsicht kann die Ausstellung und auch ihr Ort wie ein historisches Drama, als animierte Präsentation der Entstehung früher modernistischer Philosophie als bedeutungstragende Episode der Wiener Geschichte gelesen werden. Darüber hinaus wird ein spezieller Blickwinkel auf die Gestaltung, Architektur- und Institutionsgeschichte des Ausstellungshauses eröffnet und ein Kontext vorgestellt, in dem Mitglieder wie Klimt, Schiele und Hoffmann ihre künstlerische Sprache entwickelt haben. Neben der Installation zeigen Clegg & Guttmann mehrere Videos, in denen Texte von Mach, Boltzmann, Weininger, Kafka, Musil, Kraus, Loos und anderen von zeitgenössischen Wiener Kulturschaffenden vorgetragen werden.
Die Konsequenz aus den widersprüchlichen und dennoch zutreffenden Beschreibungen von Wirklichkeit sind die verschiedenen Wahrnehmungsweisen und daraus resultierenden Entscheidungsstrukturen, die bestimmen, wie im Alltag und politisch gehandelt wird. Clegg & Guttmann schreiben dazu: “A hundred years or so after the beginning of modernism we find ourselves deeply uncertain about what answers to give the most basic questions of ethics, aesthetics and politics. The existing ideologies seem unsatisfactory, leaving too much unsaid, the cultural agenda, conflicted and inconclusive. Perhaps an act of self-reflection on the origins of the current state of affairs might bring us closer to an insight concerning our identity thus providing us with invaluable tool to investigate where to go next.”
Michael Clegg, geboren 1957, und Martin Guttmann, geboren 1957, leben und arbeiten in New York, Berlin und Wien.