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Slavs and Tatars
Not Moscow Not Mecca
3.5. – 17.6.2012

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Slavs and Tatars, Not Moscow Not Mecca, Installationsansicht, Secession 2012, Foto: Oliver Ottenschläger

“Woran denkt ihr bei dem Wort Mythos?
An den Duft, der uns jeden Morgen empfängt.”*

 

 

Kommunismus und Islam seien die zwei großen Erzählungen von Zentralasien, behaupten Slavs and Tatars und gehen sogar noch weiter: “Eigentlich sind Kommunismus und Islam die zwei wichtigsten geopolitischen Größen des 20. und 21. Jahrhunderts.” Mit der Ausstellung Not Moscow Not Mecca im Grafischen Kabinett sowie mit einer Installation im Außenraum der Secession schreibt das 2006 gegründete Kollektiv die “Autobiografie” einer hierzulande nur wenig bekannten Region, die viele Namen trägt: von Zentralasien bis Chorasan, von Turkestan bis Ma Wara’ al-Nahr – ein Ort, der auf Arabisch “das Land hinter dem Fluss” bedeutet.

 

Mit der Ausstellung, die in einen mehrteiligen Werkzyklus mit dem Titel The Faculty of Substitution eingebettet ist, gehen die KünstlerInnen dem Thema der Selbsterkenntnis im weitesten Sinne nach. “Substitution”, so Slavs and Tatars über den Titel ihres neuen Zyklus, “bedeutet die nötige geistige Beweglichkeit, die Koordination und das Balancegefühl auszubilden, damit wir eine Geschichte durch eine andere erzählen können.” Not Moscow Not Mecca lautet der Titel der Ausstellung in der Secession, weder, noch – stets auf der Suche nach einer Vergleichsbasis zwischen den Kulturen, zwischen Orient und Okzident, zwischen der Moderne und dem Islam, entdecken Slavs and Tatars Ähnlichkeiten im scheinbar Unvergleichbaren. Diese Gleichsetzungsprozesse führen zu einer Aneignung und Neuauslegung der Geschichte, die im Widerspruch zu den bekannten Erzählungen der Mächtigen und Siegreichen steht.

 

Was erzählen nun also die zwei großen Wassermelonen in den Oerley-Schalen im Eingangsbereich der Secession? “Wassermelonen sind eine Karikatur, sie stehen für das andere. In den USA werden sie oft als eine rassistische Substitution für die afroamerikanische Bevölkerung verwendet, in Russland verweisen sie auf den umkämpften Kaukasus, und in Europa stehen sie für die Herkunftsländer der migrantischen Bevölkerung, etwa die Türkei und Nordafrika.” Wassermelonen seien zudem schön anzuschauen, ihre Oberfläche von aufregender Zeichnung, das rote Fruchtfleisch locke. Sie schmeckten gut. “Und sie kündigen den Frühling, den Sommer an. Ver Sacrum!”. Sie sind die verkörperte Aufforderung, der Ausstellung in der Secession nicht nur auf intellektueller, sondern auch emotionaler und sinnlicher Ebene zu begegnen, eine Einladung, die der “synkretistische Schrein” im Inneren des Gebäudes wiederholt und vorantreibt.

 

Die künstlerische Praxis des Kollektivs erstreckt sich nicht nur über den heterogenen zentralasiatischen Raum, sondern auch über unterschiedlichste Medien, Disziplinen und Formate und deckt dabei ein breites Spektrum unterschiedlicher kultureller Register ab. In ihren vornehmlich forschungsbasierten Arbeiten setzen sich Slavs and Tatars mit Themen wie dem Altertum und der Vergangenheit, dem Marginalen und oft Vergessenen auseinander und inszenieren die Ergebnisse ihrer Rechercheprozesse auf poetische Weise im Ausstellungsraum.

 

Im Grafischen Kabinett der Secession erwartet BesucherInnen schließlich die “kollektive Autobiographie der Flora Zentralasiens”, die die Form eines aus der Region transferierten Settings annimmt. Der Granatapfel, die Maulbeere, die Sauerkirsche, die Gurke, die Kaki, die Quitte, die Feige, die Marille und wieder die Melone, dieses Mal in zwei Sorten. “Wir bieten viele Zugänge zu unserer Arbeit”, so Slavs and Tatars, “es ist eigentlich wie in einem Bazar. Wir bieten an, und die BesucherInnen suchen sich das aus, was sie wollen.” Ausgehend von der Idee, dass Früchte als Medium oder Talisman fungieren, um überkommene Vorstellungen von mündlicher Überlieferung und schriftlicher Fixierung herauszufordern, öffnen Slavs und Tatars Themenfelder wie den Einfluss von Landschaft auf die Erinnerung oder die Dichotomie zwischen heiligem und profanem Wissen und konfrontieren diese mit den Hinterlassenschaften der westlichen Moderne.

 

Die Früchte im Grafischen Kabinett sind in Schalen zum Essen angerichtet sowie als übergroße Skulpturen gestaltet. Sie werden durch den Ast des Maulbeerbaums symbolisiert, zeigen sich als aufblasbare Melonen oder Quitten-Globus, dessen unebene Oberfläche die glatte Erdkugel ersetzt. Jede Frucht steht für eine oder mehrere Formen von Substitution, für eine linguistische, eine spirituelle, emotionale oder eben auch politische. Sie können von den BesucherInnen gemeinsam genossen oder als Objekte betrachtet werden.

 

Es ist aber auch möglich, sich auf den Matratzen aus Usbekistan auszuruhen oder über die Biographie der Früchte in der aufwändig recherchierten und vom Kollektiv selbst gestalteten und herausgegebenen Künstlerbuch zu lesen. Bunte, an die Äste eines Maulbeerbaums geknotete Bänder stehen für den zunehmenden religiösen Synkretismus, der in der Region Zentralasiens anzutreffen ist, etwa für die Einflüsse von Buddhismus und Hinduismus auf den zentralasiatischen Islam, eine dringende Alternative zu der oft rigiden Ansicht von Religion. Für den politischen Synkretismus haben Slavs and Tatars einen Spiegel gewählt, alt, schön, halbblind. Auf ihm ist “Boxori ye Sharif” (Edles Buchara) zu lesen, und zwar auf Hebräisch. “Boxoro”, ein anderes Wort für die usbekische heilige Stadt Buchara bezeichnet auch die Schrift der Juden, die Farsi sprechen und schreiben, allerdings in hebräischen Schriftzeichen.

 

Einst als Lesekreis formiert, erfolgte die Gründung des Kollektivs Slavs and Tatars im Jahr 2006. Sie reisen, sie recherchieren, sie lebten wiederholt in Eurasien und werden diese Region auch in Zukunft bereisen und bewohnen. “Wir werden den Rest unseres Lebens dieser Region widmen, und den Enthusiasmus, den wir in uns tragen, wollen wir mit anderen teilen.” Teilen, also Generosität ist eine zentrale Formel ihrer künstlerischen Arbeit. Humor sei großzügig, da er zum gemeinsamen Lachen führe, Gastfreundschaft und Weitergabe von Wissen auch.

 

Die Arbeiten von Slavs and Tatars weisen keine Berührungsängste auf: Sie vermischen Pop- und Hochkultur, Historisches und Aktuelles, Ebenen und Register, die als unvereinbar gelten: “Es geht darum, die Geschichte wiederzubeleben. Nur so können wir ihre Bedeutung an die Menschen herantragen, die unser Interesse an der Region und ihren Traditionen andernfalls für abstrus oder unerheblich halten würden. Wir verwenden das Wort Wiederbelebung ganz bewusst: Der sinnliche Gehalt, der darin liegt, einem Gegenstand Leben einzuhauchen (indem man, wenn man so will, seine Lippen auf den Mund des Forschungsgebietes drückt), verweist auf eine affektive Bindung zu einer Idee oder zu einem Text.”

 

Not Moscow Not Mecca ist eine sinnliche, humorvolle und intellektuelle Ausstellung zugleich, und das wünschen sich Slavs and Tatars auch sein zu dürfen, selbst als KünstlerInnen: “Wir wollen glücklich und intellektuell zugleich sein.”

 

* Aus: “Die kürzeste Strecke zwischen zwei Punkten”, Slavs and Tatars im Gespräch mit Franz Thalmair, in: Not Moscow Not Mecca, Ausstellungskatalog, Secession, Wien 2012.




Künstler*innen
Slavs and Tatars

Das Kollektiv Slavs and Tatars wurde 2006 gegründet.

Programmiert vom Vorstand der Secession


Vereinigung bildender Künstler*innen Wiener Secession
Friedrichstraße 12
1010 Wien
Tel. +43-1-587 53 07