Rosalind Nashashibi
DEEP REDDER
27.6. – 1.9.2019
Die Auseinandersetzung mit Formen des Sorgetragens und des Zusammenlebens unter Berücksichtigung der jeweiligen politischen, sozialen und historischen Bedingtheiten ist ein konstantes Thema in Rosalind Nashashibis Werk. Das Private und das Politische treffen dabei aufeinander und verschränken sich, manchmal mit Betonung auf politischen Inhalten wie im Film Electrical Gaza, der ihr 2017 eine Nominierung für den prestigereichen Turner Prize einbrachte, manchmal mit stärkerer Fokussierung auf private Aspekte wie in dem als Auftragsarbeit für die documenta 14 entstandenen und vielbeachteten Film Vivian’s Garden (2017), einem Porträt vom Leben und der Mutter-Tochter-Beziehung der Künstlerinnen Elisabeth Wild und Vivian Suter, die zurückgezogen im Regenwald von Guatemala leben.
Die komplexen Mechanismen, die hinter Identitätspolitiken und dem Aufeinandertreffen von Kulturen stecken, beleuchtet die Künstlerin, die selbst irisch-palästinensischer Abstammung und in England geboren ist, nicht abstrakt und verallgemeinernd, sondern spezifisch anhand der Biografien realer Menschen und stets mit Einfühlungsvermögen und großem Respekt. Sie verzichtet in ihren Filmen auf stringente Erzählungen. Stattdessen inszeniert sie Szenen und Momente aus dem alltäglichen Leben in filmischen Collagen zu oft enigmatischen wie gleichermaßen poetischen Bildern. In der Parallelität unterschiedlicher Handlungsstränge manifestiert sich ihr Interesse an vielschichtigen Realitätsebenen und sozialen Organisationsformen von der Familie bis zum Staat.
In der Ausstellung DEEP REDDER zeigt Rosalind Nashashibi Malerei und einen neuen Film in zwei Teilen, der das Ergebnis einer längeren, prozessualen und noch nicht abgeschlossenen Reflexion über gesellschaftliche Normen familiären Zusammenlebens ist. Im Zentrum steht ihre Suche nach Alternativen, allen voran eine kritische Revision des Modells der Nuklearfamilie, das de facto in der Lebensrealität vieler Menschen längst überholt, politisch und ideologisch jedoch nach wie vor heiß umkämpft ist.
Beide Filmteile sind inspiriert von der Kurzgeschichte The Shobies’ Story (1990) der Science-Fiction- und Fantasy-Autorin Ursula Le Guin. Eingebettet in das von der Schriftstellerin geschaffene Science-Fiction-Universum erzählt sie von den Erlebnissen einer generationenübergreifend zusammengestellten Gruppe, die eine neue Form der Raumfahrt, die auf nicht-linearer Zeit basiert, testet. Im Film übernimmt Nashashibi die Rolle der Erzählerin und verknüpft die filmische Handlung mit der literarischen Quelle, um gleichzeitig philosophische und psychologische Fragen zu zwischenmenschlichen Beziehungen in den Raum zu stellen.
Neben Le Guins Kurzgeschichte bezieht Nashashibi sich auf das chinesische Orakel- und Weisheitsbuch I Ging, das sie vor Drehbeginn befragte und das maßgeblich auf die Form des Filmes einwirkte sowie die beiden Titel generierte. Teil 1 heißt Where there is a joyous mood, there a comrade will appear to share a glass of wine und Teil 2 The moon is nearly at the full. A team horse goes astray. Vor dem Hintergrund der Le Guin’schen Geschichte reflektiert der Film, in dem die Künstlerin, ihre Kinder und enge Freunde die Hauptrollen übernehmen, wie das Gefühl von Gemeinschaft innerhalb einer Gruppe zunächst aufgebaut und dann erschüttert wird, wenn ihre Entwicklung nicht auf einer linearen Abfolge beruht und ihr Verständnis übersteigt.
Die parallel zu ihren Filmen entstehende Malerei, die bei aller Abstraktion und formaler Reduktion dem Gegenständlichen verhaftet bleibt, öffnet der Künstlerin die Möglichkeit zu unmittelbarem Ausdruck und bietet ein Format, das Reflexionen, Gefühlen und Stimmungen aber auch Spontanität Platz lässt. Besonders die in der Ausstellung gezeigten Gemälde veranschaulichen ihre Erfahrung des In-der-Welt-Seins und der Gleichzeitigkeit verschiedener Zustände, „die Füße und Knöchel im Wasser, die Waden und Schenkel im Trockenen – ein den Hals nach oben reckendes Lamm oder das verborgene Gesicht eines Kälbchens, das dennoch vom Mondlicht beschienen wird.“ (Rosalind Nashashibi).
Neben Soloprojekten nehmen künstlerische Kollaborationen seit langem einen wichtigen Stellenwert in Nashashibis Praxis ein. Für das zur Ausstellung erscheinende Künstlerbuch hat sie die befreundete litauische Künstlerin Elena Narbutaite eingeladen, mit eigenen Werken auf ihre Bilder zu reagieren und in einen malerischen Dialog zu treten.
geboren 1973 in Croydon (England), lebt und arbeitet in London.