Olga Chernysheva
Chandeliers in the Forest
17.11.2017 – 28.1.2018
Olga Chernysheva ist als einfühlsame Beobachterin und scharfsinnige Chronistin vor allem des russischen Alltagslebens bekannt. In Zeichnungen, Gemälden, Fotografien und Videos übersetzt sie die Auswirkungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels auf die Menschen in „poetische Verhältnisse“.
Für ihre Ausstellung Chandeliers in the Forest wählte Chernysheva neue und ältere Arbeiten aus verschiedenen Serien und aus unterschiedlichen Medien aus, die kontemplative Momente, in denen sich innere Befindlichkeiten äußerlich manifestieren, in den Blick rücken.
In diesem psychologischen Ansatz steht Chernysheva sowohl der Kunst des Russischen Realismus des 19. Jahrhunderts nahe wie auch dem Sowjetischen Avantgardefilm. Die als Animationsfilmemacherin ausgebildete Künstlerin bezieht sich in ihren Arbeiten unter anderem auf Sergei Eisenstein, Dziga Vertov und Alexander Dowschenko, die für innovative Montagetechniken und filmischen Expressionismus bekannt sind. Wenngleich Chernyshevas Werken die Dramatik und der ideologische Duktus dieser Filme aus den 1920er- und 1930er-Jahren fremd sind, so verbindet sie die psychologische Ausdruckskraft der Einzelbilder und die Wertschätzung von Gesten und Mimik als Mittel der Erzählung. Vor allem Dowschenko vertraute in seinen Stummfilmen Großaufnahmen und langen Einstellungen, um dramatische Szenen und Gefühle über die Mimik oder sogar Einzelheiten einer Landschaft unmittelbar lesbar zu machen.
Im Grafischen Kabinett zeigt die Künstlerin Zeichnungen und Gemälde, die von der Expressivität der Körpersprache ausgehen. Queuing (2017), eine Serie von Kohlezeichnungen, die Chernysheva speziell für den Stiegenaufgang zum Ausstellungsraum im ersten Obergeschoss anfertigte, zeigt die Beine wartender Wiener Fiaker-Pferde. Die Künstlerin vernahm die seltsame Anspannung der Tiere, die vom mitunter stundenlangen Warten an den Standplätzen herrührt und die sich an der Haltung der Beine ablesen lässt. Die innere Befindlichkeit überträgt sich auf die Körperhaltung. Verstärkt wird das Gefühl körperlichen Unbehagens durch die Rahmung der Zeichnungen in einem über vier Meter langen, parallel zur Stiege gehängten Rahmen. Die Form eines Parallelogramms wird bei zukünftigen Präsentationen in horizontalen Räumen an den ersten Ausstellungsort erinnern, die Secession bleibt dem „Körpergedächtnis“ des Rahmens für immer eingeschrieben. Wie sich Bewegungsmuster ändern, zeigt auch die Serie kleinformatiger Ölgemälde Moscow River (2017): Der Wasserstand ist dramatisch zurückgegangen und wo man früher im Sommer schwimmen konnte, waten die Menschen um Gleichgewicht ringend durch das steinige Flussbett.
Im Untergeschoss liegt der Fokus der Ausstellung mit dem neuen Video Chekhov Museum (2017) und der 18-Kanal-Videoinstallation Screens (2010–2017) auf filmischen Arbeiten und Motiven, die sich im Untergrund abspielen. Wie der russische Schriftsteller Anton Tschechow beobachtet und beschreibt Chernysheva gewöhnliche Handlungen und behält deren politische und gesellschaftliche Bedingtheit stets im Blick. Im Video folgen wir der Künstlerin, wie sie Dokumente und Fotos filmt und den leidenschaftlich von einer Museumsmitarbeiterin vorgetragenen Anekdoten aus dem Leben und Arbeiten des berühmten Autors und Arztes folgt. Erst im Lauf des Films klären sich die Rollen: Die vermeintliche Kunstvermittlerin entpuppt sich als Aufsicht, die still an ihren Platz zurückkehrt, als die offizielle Vermittlerin die Räume betritt. In Chekhov Museum knüpft die Künstlerin an frühere Arbeiten zu Museumswärtern an (z.B. Guards, 2009), in denen sie dem eigentümlichen Zustand latenter Aufmerksamkeit zwischen Entspannung und Aktion nachging. Eine andere Lebenssituation zeigen Zeichnungen von Menschenschlangen auf den endlos scheinenden Rolltreppen der Moskauer U-Bahn. Aufgeklebte Titel mit Wortspielen wie Escalator oder Escalation fungieren wie Sprechblasen in Comics oder die sparsam eingesetzten Textbilder in Stummfilmen.
Der Ausstellungstitel Chandeliers in the Forest stammt von einer Serie von Leuchtkästen, deren künstlerische Herangehensweise beispielhaft für Chernyshevas Oeuvre ist. Die Bilder beleuchten den Einfallsreichtum und die Kreativität von Menschen, die sich durchschlagen müssen; hier bekam ein Arbeiter statt seines Lohns das Produkt seiner Arbeit – Glasluster – und versucht diese nun an einer bei Touristen beliebten Straße zu verkaufen, indem er sie wie in einem Schaufenster in die Bäume hängt. In dieser zugleich pragmatischen und poetischen Notlösung entdeckt die Künstlerin Schönheit.
Screens, eine Mehrkanal-Videoinstallation, die kurze filmische Sequenzen mit Texten der Künstlerin zu einer Collage verbindet, ist wie eine Art Tagebuch, in denen philosophische Gedanken und Alltägliches gleichwertig nebeneinander stehen. Für die Secession wählte die Künstlerin 18 Videos seit 1999 aus, die musikalisch von einer Schostakowitsch-Interpretation Keith Jarretts gerahmt werden.
“Wenn ich mit einem knappen Wort ausdrücken müsste, was ich als Künstlerin mache, würde ich das Wort Empathie wählen.” (Olga Chernysheva)
geboren 1962 in Moskau, lebt und arbeitet in Moskau.