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Manon de Boer
Giving Time to Time
1.7. – 28.8.2016

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Manon de Boer, Filmstill aus An Experiment in Leisure, 2016 © Manon de Boer, Courtesy Jan Mot, Brüssel

Manon de Boer arbeitet vorwiegend mit Film. Sie setzt sich mit dem Medium kritisch auseinander, etwa wenn sie das Verhältnis von Bild und Ton auslotet und dabei die Macht der Bilder und ihren Wahrheitsanspruch hinterfragt. Die persönliche Erzählung dient de Boer ebenso wie die musikalische Interpretation als Gegenstand und Methode ihrer als langsam fließende Bilderfolgen komponierten filmischen Porträts. Die Protagonisten ihrer Filme sind oft SchauspielerInnen, MusikerInnen, TänzerInnen und Intellektuelle. Die Figuren selbst nehmen erst im Lauf ihrer Erinnerungen Form an, kommen wie Fotoabzüge in der Dunkelkammer nur allmählich zum Vorschein, und auch dann bleibt mindestens so viel verborgen, wie preisgegeben wird.

 

Das Fragmentarische bzw. die Inkonsistenz der Narration in de Boers Arbeiten verdeutlicht nicht nur die wandelbare Beziehung von Zeit und Sprache. Sie rückt auch die jeweils situationsbedingte Wahrnehmung und deren Veränderlichkeit in den Mittelpunkt. Der Einsatz von ErzählerInnen-Stimmen aus dem Off erzeugt zugleich eine eigene Ebene, die sich von der körperlichen Präsenz des/der Dargestellten emanzipiert hat.

 

In ihrer Ausstellung Giving Time to Time zeigt Manon de Boer sechs Filmarbeiten, die das Interesse der Künstlerin an den Rahmenbedingungen für Kreativität und freies künstlerisches Schaffen widerspiegeln. Nach Ansicht der Künstlerin spielen insbesondere die Erfahrung von Zeit von unbeschränkter, offener Dauer und ein unbeschwerter mentaler Zustand eine wesentliche Rolle hierfür: „Ich betrachte diese zwecklosen Momente, in denen man seinen Gedanken freien Lauf lassen, die Zeit vergessen und den Kopf frei machen kann, als wesentlichen Teil des kreativen Prozesses.“ Eine theoretische Untermauerung ihrer eigenen Beobachtungen und Erfahrung findet de Boer unter anderem in den Schriften der britischen Psychoanalytikerin Marion Milner (1900–1998), die sich eingehend mit Kreativität befasste, ebenso wie in Texten der von ihr sehr geschätzten kanadisch-US-amerikanischen Künstlerin Agnes Martin, die derselben Generation wie Milner angehörte. Vor allem Milners Buch An Experiment in Leisure (1937) und Martins Text The Untroubled Mind (1972) bieten nicht nur interessante und anregende Überlegungen, an die de Boer anknüpft; sie sind auch titelgebend für zwei der in der Ausstellung gezeigten Filme.

 

An Experiment in Leisure (2016), der in der Secession erstmals im Ausstellungskontext präsentiert wird, ist der Versuch einer filmischen Übersetzung des schon erwähnten Begriffs der zweckfreien, endlosen Zeit. Im Vorfeld tauschte sich de Boer mit befreundeten KünstlerInnen, ChoreographInnen und TheoretikerInnen über bestimmte von Milner dazu geprägte Begriffe aus, wie z.B. Träumerei, Wiederholung, Rhythmus, Formbarkeit. In einer Abfolge von Plansequenzen – langen stehenden Kameraeinstellungen ohne Schnitte – zeigt der Film eine weite, menschenleere Insellandschaft aus der immer selben Perspektive an verschiedenen Tagen. Später wird die Aufmerksamkeit in langsamen Kamerafahrten in Nahaufnahme auf Details gelenkt, die eine malerisch abstrakte Qualität aufweisen; dazwischen tauchen Bilder von den Arbeitsräumen aller GesprächspartnerInnen auf: Ateliers, Tanzstudios, eine Bibliothek – indirekte Porträts dieser Personen, die allein durch ihre Stimmen und Spuren ihrer Tätigkeiten präsent sind. Dank der Reduktion auf diese ruhigen, ausdrucksstarken Bilder, die mitunter wie Standbilder wirken, wären da nicht doch subtile Veränderungen z.B. ein leichtes Kräuseln auf einer Wasseroberfläche, ein bewegter Vorhang, Licht- und Schattenspiele, erzielt de Boer eine Verlangsamung der Wahrnehmung bis an die Grenze der Langeweile, die zugleich einen Zustand erhöhter Sensibilität und Wachsamkeit hervorruft. Die Tonspur besteht aus einem durchgehenden Soundscape, aufgenommen bei Filmarbeiten im Norden Europas. An einigen Stellen legen sich Off-Stimmen über die Naturaufnahmen, Fragmente der Gespräche über Milner, und bilden so etwas wie konkrete Setzungen innerhalb des abstrakten Klangflusses, der den gewünschten Geisteszustand des Driftens und der freien Assoziationen befördert.

 

Neben den Porträts Presto, Perfect Sound (2006) und Dissonant (2010), zwei strukturellen Filmen, die mit der Wiederholung und Variation arbeiten und zeitlich aufeinander folgend gezeigt werden, sind drei weitere in jüngerer Zeit fertiggestellte Filme in der Secession zu sehen: die bis dato nie öffentlich präsentierten „Filmskizzen“ The Untroubled Mind (2013–2016) und You Can Never Be Complete (2015) sowie die 16-mm-Filminstallation Maud Capturing the Light ‘On a Clear Day’ (2015).

 

An den Porträts des Musikers George van Dam, Presto, Perfect Sound, und der Tänzerin Cynthia Loemij, Dissonant, interessiert die Künstlerin im Kontext der Ausstellung insbesondere die pure Konzentration, die an den Gesichtern der Porträtierten bei der Ausübung ihrer künstlerischen Tätigkeit ablesbar ist. Für de Boer verkörpert dieser Ausdruck von Konzentration auf ideale Weise, was Milner über Formen des Denkens und freien Assoziierens geschrieben hat und wie diese, wenn die Wahrnehmung des Selbst und der Außenwelt übereinstimmen, oft mit einer starken physischen Erfahrung von Raum und Zeit einhergehen.

 

Maud Capturing the Light ‘On a Clear Day’ wiederum ist eine filmische Studie über eine Zeichnung von Agnes Martin, ‘On a Clear Day’, und wie diese im privaten Umfeld im Alltag wahrgenommen wird. Hierfür bat sie die Besitzerin, die im Film nur als flüchtige Reflexion auf der Verglasung des Bildes auftaucht, die im Flur hängende Zeichnung stets dann zu filmen, wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, durch einen bestimmten Lichteinfall oder ähnliches.

 

In den beiden tonlosen filmischen „Skizzen“ sind die handelnden Personen ausschließlich durch das Zeigen einer endlos fortsetzbaren Sammlung auf der einen Seite bzw. von Spuren der sorglosen Beschäftigung auf der anderen präsent. In You Can Never Be Complete (2015) ist eine Abfolge von Aufnahmen eines gleichbleibenden Ausschnitts eines Bücherregals zu sehen, in dem jeweils ein anderes Buch, das mit der westlichen Kultur- und Geistesgeschichte eng verbunden ist, präsentiert wird – von und über Persönlichkeiten wie Palladio, Arendt/Benjamin, Warburg, Giotto, Judd, Bataille, Rilke, Didi-Huberman, Daedalus, Le Corbusier, Melville usw. Es handelt sich um Bücher aus der Sammlung des belgischen Verlegers und Kunsthistorikers Yves Gevaert, mit dem die Künstlerin seit 2014 zahlreiche Gespräche über das Sammeln und assoziative Verknüpfungen von Kunst, Literatur, Musik und Philosophie geführt hat.

 

Die Szenen in The Untroubled Mind filmte de Boer mit einer Bolex, einer 16 mm-Amateurkamera, die erst manuell aufgespult werden muss, um dann Sequenzen von rund 20 Sekunden filmen zu können. Bezugnehmend auf Agnes Martins titelgebende Abhandlung zeigt der Film ganz unaufgeregt die vielen Momente des sorglosen Entdeckens und aktiven, kreativen Gestaltens der Welt eines Kindes. Immer wenn die Künstlerin überraschend auf solche Manifestationen oder Gesten eines beneidenswert freien mentalen Zustandes ihres Sohns stieß, griff sie zur Bolex und dokumentierte seinen spielerisch leichten und unorthodoxen Umgang mit Material und Raum wie beispielsweise mal mehr, mal weniger stabil erscheinende Verbindungen, wo Schnüre von Sesseln zum Tisch oder Fenster gespannt sind, ein Tuch darauf hängend; Türme aus Holzklötzen; mit Mikadostäbchen quer drübergelegt, bilden diese Brücken; Stapeln von Münzen ans Sesselbein gelehnt; mit zweckentfremdeten Metallteilen durch die Wohnung gezogene Wege usw. The Untroubled Mind zeigt einen wunderbar frischen und erfrischenden Blick auf die Welt und das Potential, das – wenn man ihn zulässt – in einem Moment der Passivität, der Langeweile, der Muße steckt.

 

Parallel zur Ausstellung konzipierte und entwickelte Manon de Boer ihr Künstlerbuch Trails and Traces. Neben Stills von den in der Ausstellung gezeigten Filmen sind u.a. Auszüge aus den Gesprächen über Marion Milner und ihre Theorien sowie weitere, von der Künstlerin ausgewählte relevante Texte zu diesem Themenkomplex versammelt.

 




Künstler*innen
Manon de Boer

geboren 1966 in Kodaikanal (Indien), lebt und arbeitet in Brüssel.

Programmiert vom Vorstand der Secession

Kuratiert von
Jeanette Pacher

Vereinigung bildender Künstler*innen Wiener Secession
Friedrichstraße 12
1010 Wien
Tel. +43-1-587 53 07