Jennifer Tee
Still Shifting, Mother Field
16.9. – 6.11.2022
Wie können wir den Platz des Menschen in seiner natürlichen Umgebung und im Kosmos wiederfinden oder neu definieren? Welche Potenziale für eine beseelte Welt gibt es angesichts ihrer gegenwärtigen Instabilität und Komplexität? Jennifer Tee untersucht in ihrer Ausstellung Still Shifting, Mother Field diese grundlegenden Fragen nach unserer Verortung, Spiritualität und Transzendenz. Ihre Werke, die sie großteils eigens für die Ausstellung entwickelt hat, kennzeichnet der experimentierfreudige Umgang mit einer Fülle an künstlerischen Techniken. Tee kombiniert Collagen, Skulpturen, darunter Keramik-Kuppeln, gestrickte Bodenobjekte und textile Hüllen, und Performance, um den fragilen Verflechtungen des Lebens nachzugehen. Bezugnehmend auf die Idee des wandernden Geistes oder der verlorenen Seele legt sie dabei einen besonderen Fokus auf Formen des Übergangs, Passagen und Prozesse einer permanent andauernden Veränderung.
Ausgangspunkt und rahmendes Element der Ausstellung ist die Werkserie der Tampan Tulips, die Tee seit 2016 entwickelt und nun erstmals in einer umfangreichen Zusammenstellung präsentiert. Die Motive der zehn Collagen aus gepressten Tulpenblütenblättern basieren auf Tampan-Webereien. Die zeremoniellen Textilien stammen aus der im Süden Sumatras gelegenen Region Lampung, die jahrhundertelang Teil wichtiger Handelsrouten war, und wurden bei Übergangsriten ausgetauscht. In ihren emblematischen Darstellungen spielt das Schiff eine zentrale Rolle. Mit den darauf befindlichen Menschen, Tieren und pflanzenartigen Formen befindet es sich auf dem Weg in eine andere Welt. Die geometrischen, oft spiegelsymmetrisch angelegten Muster verbildlichen soziale ebenso wie universale Ordnungen und werden als Portal von der materiellen in die spirituelle Welt verstanden. Deutlich wird dies etwa in Tees jüngster Arbeit, Tampan Sessile Beings, Sacred Shrine (2022), in der unten und oben zwei Schiffe einander gegenübergestellt sind, von denen das obere zugleich wie ein Dach wirkt. In ihrer Mitte wächst aus einem gebärmutterähnlichen Ornament ein Lebensbaum, dessen Krone sich symmetrisch zu den Wurzeln auffächert, so dass die Symbole für Behausung, Ursprung und Abstammung aufs Engste mit jenen für Aufbruch, Bewegung und Veränderung verwoben sind.
Indem Tee die Tradition der Tampans Sumatras in ihren Collagen mit der Tulpe und ihrer Kulturgeschichte zusammenbringt, evoziert sie eine Vielzahl an neuen Erzählungen, die auf globale Netzwerke und den damit einhergehenden Austausch und Transfer von Kultur, Natur und Waren ebenso verweisen wie auf Migration und interkulturelle Identitäten. Die Kombination hat für Tee zudem eine biografische Verankerung: Ihre chinesisch-indonesischen Vorfahren migrierten in den 1950er-Jahren in die Niederlande, während ihr Großvater mütterlicherseits Exporteur von Blumenzwiebeln war.
Die aus den Bergen Zentralasiens stammende, zuerst in Persien und der Türkei kultivierte Tulpe gilt bis heute als Symbol der Liebe. In den Niederlanden wurden ihre Schönheit und Vergänglichkeit im 17. Jahrhundert in zahlreichen Stillleben festgehalten. Zur Zeit des Tulpenwahns galt die Blumenrarität als das ultimative Statussymbol. Die von der Niederländischen Ostindien-Kompanie forcierten Handelswege hatten eine enorme Anhäufung von Reichtum und Kapital erzeugt, die es ermöglichte, dass die Bewunderung für die Tulpe in Gier und exzessive Spekulation mit den Blumenzwiebeln umschlug, die 1637 in den ersten Börsencrash mündete.
Die Künstlerin wählt die Blütenblätter für ihre Collagen sorgfältig aus. Sie stammen unter anderem von der sogenannten Rembrandt-Tulpe, deren kontrastreiche, gestreifte Pigmentierung durch Viren hervorgerufen wird. In einem sensiblen, von den Jahreszeiten abhängigen Produktionsprozess pflückt sie die Blütenblätter – sie kooperiert dafür mit der Stiftung Hortus Bulborum, die historische Zwiebel- und Knollenfrüchte konserviert –, trocknet und montiert sie, bevor sie die sehr lichtempfindlichen organischen Produkte in langlebigere Drucke übersetzt.
Tees Werk ist geprägt von ihrem tiefen Interesse an Zuständen des Übergangs in eine andere Welt. Sie selbst spricht in diesem Zusammenhang von einer „Seele in der Schwebe“, die ruhelos und lebendig ist und dabei gefangen an einem nicht näher bezeichneten Ort, in einem konzeptionellen, mentalen, psychologischen und physischen Raum an der Grenze zwischen dem Hier und dem Möglichen.
Die auf niedrigen Podesten ausgebreiteten Shrouds (2022) zeichnen wie Leichentücher schemenhaft die Form des menschlichen Körpers nach und beschreiben als leere Hüllen zugleich den Moment oder Prozess seines Entschwindens. Das Potenzial, das die Hüllen für Körper und Seele eröffnen, wird in wöchentlichen Performances, die Tee gemeinsam mit der Choreografin Miri Lee entwickelt, aktiviert. Tänzer*innen interagieren dabei mit den Textilskulpturen. Der schwebende Moment des Einschlafens, der Schutz eines Kokons und die Metamorphose einer sich häutenden Schlange sind nur einige der visuellen Assoziationen, die dabei verhandelt werden.
Für die Produktion der Shrouds hat Tee ein neuartiges Gewebe aus Ananas-Resten und recyceltem Büffelleder verwendet. Die Skulpturen zeugen ebenso wie die aus handgefärbter Wolle gestrickten Bodenarbeiten (Crystalline Floorpieces) und die keramischen Objekte von einer künstlerischen Praxis, die angewandte Techniken mit großer Selbstverständlichkeit in das Werk integriert und dabei stets Materialexperimente und philosophische Überlegungen in Einklang bringt.
Beispielhaft für Tees Suche nach einer geistigen Dimension in der Kunst ist auch die Installation Tao Magic (2022) in der Apsis des Ausstellungsraums. Die Keramik-Kuppeln verweisen auf jene kosmischen Ordnungen und Kräfte, die zwar oft unsichtbar sind, aber wie etwa die Gezeiten unser tägliches Leben unmittelbar beeinflussen. Während die Anordnung ein Sternbild evoziert, erinnern die Glasuren in verschiedenen matten Erdtönen an die Formen von vollen oder halbvollen Monden. Zum einen offenbart sich hier die Vorstellung aus der taoistischen Philosophie, dass das Universum sich in einem permanenten Prozess neu erschafft, zum anderen zugleich die westliche Tradition, Spiritualität in der Abstraktion zu fassen, wie sie sich etwa in den Werken von Hilma af Klint und Wassily Kandinsky beobachten lässt.
In Auftrag gegeben und produziert von der Secession, Wien und dem Kunstinstituut Melly, Rotterdam.
Jennifer Tee
Still Shifting, Mother Field
Kunstinstituut Melly, Rotterdam, Die Niederlande
20. Januar – 23. April 2023
Die Ausstellung von Jennifer Tee wird mit finanzieller Unterstützung durch den Mondriaan Fonds ermöglicht.
Jennifer Tee, geboren 1973 in Arnhem, lebt und arbeitet in Amsterdam.