


Heidrun Holzfeind
the time ist now.
1.2. – 31.3.2019
Heidrun Holzfeind beschäftigt sich in ihren Filmen, Fotos und Skulpturen seit vielen Jahren mit Fragen des Dokumentarischen im Allgemeinen und nach der sozialen Funktion von Architektur und alternativen Lebenswegen abseits der Konsumgesellschaft im Besonderen. In ihren ebenso gut recherchierten wie poetisch umgesetzten Arbeiten lotet sie die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Identität, zwischen individuellen Geschichten und den politischen Narrativen der Gegenwart aus.
Für ihre Ausstellung the time is now. hat Holzfeind eine neue, zwei Filme umfassende Videoinstallation über das schamanische Improvisationsduo IRO entwickelt. Das japanische Experimentalmusikerpaar Toshio und Shizuko Orimo arbeitet seit 1981 zusammen. Ihre Musik, ihr Aktivismus in der Friedens- und Anti-Nuklearbewegung sowie ihr freigeistiger Lebensstil sind Ausdruck einer animistischen und pantheistischen Weltanschauung, die sich vehement jeglicher Kommerzialisierung widersetzt.
Der erste Film zeigt eine Performance des Duos im September 2018 an verschiedenen Schauplätzen des Inter-Universitären Seminarhauses in Hachioji, Tokio. Die modernistische Anlage, deren Hauptgebäude die Form einer auf dem Kopf gestellten Pyramide hat, wurde 1964 von dem japanischen Architekten und Denker Takamasa Yosizaka (1917–1980) entworfen. Yosizakas Ideen zur Beziehung zwischen Mensch, Natur und Architektur, Individualität und Gemeinschaft, Nachhaltigkeit und Frieden ebenso wie seine damit verbundene Kritik an der westlichen Zivilisation stehen auf vielfache Weise mit der Weltsicht der MusikerInnen in Einklang. Holzfeind inszeniert Yosizakas außergewöhnlichen Gebäudekomplex als Bühne für IROs Performances. Die MusikerInnen verbinden darin Improvisationen auf Noh- und Steinflöten, Trommeln und Kagura-Schellen mit ihrer ganz eigenen (Neu-)Interpretation alter Shinto- Rituale, indigener Zeremonien und koreanischem Maskentheater, die sie „Punk Kagura“ nennen.
Holzfeinds filmische Annäherung spielt in ruhigen, rhythmisch geschnittenen Bildern mit den Kontrasten und Beziehungen zwischen der brutalistischen Architektur, der sie umgebenden Natur der bewaldeten Hügel von Hachioji, den Darbietungen der MusikerInnen und ihren Instrumenten. Wiederholt werden die Aufnahmen durch farbige Filter verfremdet. Sie suggerieren den Übergang in andere Wirklichkeiten – IRO beruft sich auf Traditionen, die künstlerische Performance als eine Form von Magie verstehen – und sind zugleich (wie auch das wiederholt auftauchende Auge) eine Referenz an den Film Phantomdes japanischen Experimentalfilmers Toshio Matsumoto (1932–2017). Ähnlich wie auf der visuellen Ebene verschmelzen auch in der Ebene des Tons Musik, Sprechgesang und Geräusche der Natur. So entstehen Momente, in denen die Zikaden und Grillen im Zwiegespräch mit den Instrumenten erscheinen.
Der zweite Teil des Films führt in das Innere des zentralen Seminarhauses, wo Shizuko und Toshio eine Improvisation auf Klavier und Kontrabass mit poetischem Gesang zu ihren Motiven „Anima Animus“ und „Maburi Henoko“ aufführen. „Maburi Henoko“ ist ein von den beiden geprägtes „Kotodama“ (wörtlich „Wortseele“, ein Wort mit sprachmagischer Wirkung) basierend auf dem animistischen Konzept von „Maburi“ (ein Wort mit Ursprung auf den Amami-Inseln, das „Seele“ oder „Geist“ bedeutet), das sie mit ihrer Forderung verbinden, der Zerstörung von Lebensraum und Natur durch den Bau eines US- Luftstützpunktes in der Henoko-Bucht in Okinawa Einhalt zu gebieten. Holzfeind kombiniert diese Aufnahmen mit Found-footage-Material des „Izaiho“-Frauenrituals in Okinawa, von Protestbewegungen in Tokyo und Okinawa aus den 1970er-Jahren bis heute, sowie mit Videoaufnahmen eines Konzerts von IRO aus dem Jahr 1987. Dieser Auftritt war ihre letzte Performance als Punkrockduo IRO und markiert ihre musikalische Neuorientierung hin zu „energy-free music“ – die Ablehnung elektronischer Sounds und Zuwendung zu akustischen Instrumenten, indigener Musik und Shinto-Riten als radikale Konsequenz nach dem Tschernobyl-Desaster. Die visuellen Gegenüberstellungen und akustischen Überlagerungen der Konzertaufnahmen aus den 1980er-Jahren mit denen aus dem Herbst 2018 erzeugen einen synthetischen Effekt, der ihre mehr als 40-jährige Zusammenarbeit einfängt.
Der zweite Film zeichnet ein poetisches Portrait des Musikerpaars. Er eröffnet einen Einblick in ihr Universum: ihre musikalischen Wurzeln in ethnischer Musik, Punk und 1970er Free Jazz, ihre philosophischen Einflüsse und Reflexionen, ihren nachhaltigen Lebensstil und ihr politisches Engagement. Der Film zeichnet dabei die Fragilität ihrer Beziehung zueinander und verdeutlicht, wie ihre Lebensentscheidungen immer wieder mit politischen Ereignissen verknüpft sind. „What we do is ultimately futile. But the reason we continue is not to change the world, but so we won’t be changed by the world“, paraphrasieren sie Gandhi: „We don’t want to be controlled. We want to be free.“
Charakteristisch für den dokumentarischen Ansatz Holzfeinds ist, dass sie den Geschichten und Reflexionen der Befragten viel Raum lässt und ihren Protagonisten mit Empathie begegnet. Sie zielt darauf ab, den Zusammenhang zwischen persönlichen und politischen Narrativen herauszustreichen. Wie schon in ihren früheren Projekten untersucht Holzfeind auch in the time is now. Strategien des Widerstands und Möglichkeiten für einen gesellschaftlichen Wandel im Bereich des Alltagslebens durch Selbstentfaltung, künstlerischen Ausdruck und gemeinschaftlicher Entwicklung.
Zur Ausstellung erscheint die Schallplatte IRO. anima animus. Das Album umfasst vier im Seminarhaus aufgenommene Stücke: zwei Improvisationen auf Noh- und Steinflöten, Rahmentrommel und Kagura- Schellen, ein Duo auf Klavier und Kontrabass und ein Trio mit ihrem Sohn Sabu Orimo auf der Shakuhachi-Bambusflöte. Im bebilderten Begleitheft finden sich Interviews von Heidrun Holzfeind mit den MusikerInnen und mit der Architektin Yuko Saito, einer früheren Mitarbeiterin im Büro Takamasa Yosizakas (Atelier U), über dessen Arbeit und Theorien.
geboren 1972 in Lienz, lebt und arbeitet in Umeå, Schweden.