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Gerard Byrne
Upon all the living dead.
1.2. – 31.3.2019

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Gerard Byrne und Sven Anderson, A Visibility Matrix, 2018, Ausstellungsansicht, Secession 2019, Foto: Iris Ranzinger

Gerard Byrne arbeitet mit Video, Film, Fotografie und Performance, um grundsätzliche Fragen zu Bildern und ihrem vielfältigen Verhältnis zur Zeit zu untersuchen. Seine Ausstellungen spielen mit Displayformaten und reflektieren auf die sich verändernden technischen und strukturellen Grundlagen seiner Arbeiten und ihrer Präsentation. Upon all the living and the dead versammelt zum ersten Mal Byrnes Werke der letzten Jahre. Es entspinnt sich ein Dialog zwischen der proto-cineastischen Momentaufnahme von Jielemeguvvie guvvie sjisjnjeli (2016), der unklaren Zeitlichkeit von In Our Time (2017) und A Visibility Matrix (2018), einer gemeinsam mit dem Künstler Sven Anderson geschaffenen neuen Arbeit, die heutige Bedingungen von Sichtbarkeit ins Bild setzt und dafür auf Strategien aus der frühen Medienkunst und Kybernetik zurückgreift. So werden zugrundliegende Muster und wiederkehrende Interessen erkennbar.

 

Jede der drei Videoarbeiten in der Schau beschäftigt sich auf nicht-erzählerische Weise mit Zeit und verschränkt die Besonderheit des fotografisch dargestellten Gegenstands mit den allgemeinen Bedingungen seiner Reproduktion. Im Ausstellungsraum laufen die Werke im unerbittlichen Tempo lärmender Maschinen ab; ihre Spieldauer nimmt auf das Durchhaltevermögen der Zuschauer keine Rücksicht. Dagegen zeugt die fotografische Arbeit Beasts (2018) von künstlich erzeugter Unbeseeltheit; in jedem Bild ist das Verhältnis von Fotografie und lebloser Erstarrung in ein sorgfältig austariertes Gleichgewicht gebracht. Upon all the living and the dead rückt diese verschiedenen Werke in unmittelbare Nähe zueinander.

 

Jielemeguvvie guvvie sjisjnjeli (Film Inside an Image) (2016), die älteste gezeigte Arbeit, ist ein Einkanal- Video, das Eigenschaften von Film, Standfotografie und Skulptur miteinander verbindet. Gedreht wurde sie im Biologiska Museet in Stockholm, wo auch die oben erwähnte Serie schwarzweißer Silbergelatine- Fotografien entstanden ist. Das als Rundbau angelegte Biologiska Museet zeigt in einem riesigen 360°-Diorama ein umfassendes Bild der Wildnis Nordskandinaviens. Für die aufwendige Inszenierung sind präparierte Tiere vor einem gemalten Hintergrund arrangiert. Von seiner Errichtung 1893 bis zu seiner überraschenden Schließung im Jahr 2017 – Byrne arbeitete gerade an seinem Porträt des Museums – blieb die Ausstellung praktisch unverändert. Der Künstler war zunächst vor allem von der besonderen Atmosphäre des Dioramas fasziniert, die der ungewöhnlichen Lichtsituation geschuldet war: Es wurde ausschließlich durch Tageslicht von oben beleuchtet, weswegen das Museum im Winter nur mittags für wenige Stunden geöffnet war. In dieser Abhängigkeit vom Tageslicht, so Byrne, glich das Museum einer Kamera, mit den Oberlichtern als Objektiv und dem Diorama ausgestopfter und in fotografischer Reglosigkeit erstarrter Tiere als Bild. Der im Diorama gedrehte Film geht durch seine eigenen Mittel, Ton und Bewegung, typischen Merkmalen der Fotografie wie Stillstellung, Fugenlosigkeit, Verstauben nach sowie den Wechselfällen der Geschichte, die bestimmen, was in einer Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt als Fotografie gilt. In der Ausstellung ist ein in einem Standbild entstandener Film in eine Installation eingelassen, die wiederum im Museum als Objekt gezeigt wird. Der Titel ist die Übersetzung von Film Inside an Image ins Südsamische, eine Sprache der Ureinwohner der dargestellten Wildnis, wobei eine merkwürdige Verdopplung zum Vorschein kommt, denn das Wort für „Film“ bedeutet wörtlich übersetzt „Leben-Bild“.

 

In Our Time (2017), wiederum eine Einkanal-Videoinstallation, zeigt ein amerikanisches Radiostudio aus den 1970ern oder 1980er-Jahren. Begleitet wird das Video von einer komplexen Mehrkanal-Audioarbeit. Zwei vor der Projektion angeordnete Vintage-Lautsprecher spielen den „On-Air“-Ton ab, also das, was in der Radiosendung zu hören ist, während entlang der Wände verteilte Lautsprecher die „Off-Air“-Tonspur wiedergeben und so einen akustisch verdoppelten Raum erzeugen. Zusätzliche Requisiten wie ein Klavier, Mikrofonständer und eine Stehlampe spiegeln diese Verdopplung wider und verstärken den Eindruck, dass der durch die Arbeit eröffnete Raum sich der Bestimmung entzieht.


In Our Time knüpft in mancherlei Hinsicht an Byrnes bekannte „magazine works“ wie 1984 and Beyond (2005–2007) und New Sexual Lifestyles (2003) an: Er arbeitet mit SchauspielerInnen, um mittels Kostümen und Requisiten akribische Rekonstruktionen eines bestimmten historischen Augenblicks, zumeist aus den 1960er bis 1980er-Jahren, entstehen zu lassen. Mit Blick auf die Populärkultur stellen diese Arbeiten Fragen nach den gesellschaftlichen Fundamenten – was haben wir gemeinsam, haben wir überhaupt etwas gemeinsam? In den älteren Arbeiten wurde die Illusion dieser Rekonstruktionen oft durch Brüche gestört, die von Brechts epischem Theater inspiriert waren. Bei In Our Time durchbricht ein einfacher Kunstgriff die trügerische Vorstellung des Galerieraums als Zufluchtsort: Der im Video gezeigte Radiosprecher flicht in die übliche Mischung aus Ansagen und Musik immer wieder Zeitansagen ein, die erkennen lassen, dass die fiktive Zeitlichkeit der Installation direkt mit der Realzeit in der Secession synchronisiert ist, was Fragen zur Form und zu den Grenzen des Werks selbst aufwirft. Der klassische Rundfunk entwarf eine unterschiedslose Vergemeinschaftung seiner Zuhörerschaft, die im Zeitalter der sozialen Medien und der zielgruppengenauen Werbung nicht mehr existiert. In Our Time erinnert daran, dass der Ausstellungsraum noch immer das Potenzial hat, sein Publikum über alle Unterschiede hinweg als Gemeinschaft anzusprechen.

 

In diesem Zusammenhang ist auch die jüngste Arbeit in der Ausstellung, A Visibility Matrix  (2018), zu lesen, für die Byrne wie schon in der Vergangenheit mit dem Künstler Sven Anderson zusammenarbeitete. Die Mehrkanal-Videoinstallation nimmt sich der Strategien an, die in Kunst- und Technologieprojekten der 1960er bis 1980er-Jahre am Werk waren und in Vergessenheit geraten sind: Jahrzehnte vor dem Internet und bevor die zahllosen Bildschirme, über die sich eine Flut von Bildern in öffentliche wie private Räume ergießt, fester Bestandteil des Alltagslebens wurden, untersuchten diese Projekte die Wirkung solcher visueller Überstimulierung. Die Installation schlägt eine spekulative Alternative zu dem Verbund von Subjekt, Smartphone und Online-Videosharing-Plattform vor, der die Bedingungen von Sichtbarkeit heute verkörpert. Die Arbeit ist aus Videomaterial zusammengesetzt, das von über 70 KünstlerInnen, visuellen AnthropologInnen, Kameraleuten und DokumentarfilmerInnen aus dem weltweiten Netzwerk der beiden Künstler beigesteuert wurde.


Im Ausstellungsraum erscheint A Visibility Matrix als dichte Verknüpfung von Bildschirmen und räumlichen Gesten, in denen Bilder verdoppelt, gespiegelt und verschoben werden. Diese Gesten entfalten sich über die gesamte Ausstellungsdauer hinweg; in der Verbindung von Wiederholung und Veränderung wird ein System erkennbar, das die Potenziale des Mediums Video aufzeigt, das statt als passiver Bilder aktive Signale aussendet und den Ausstellungsraum als Ort der Verdichtung entwirft.

 

Von großer innerer Komplexität und offen zugleich stellt Upon all the living and the dead. eine archäologische Studie des Verhältnisses zwischen Bildern und Zeit vor.

 

Die Arbeit A Visibility Matrix entstand unter redaktioneller Leitung von Sven Anderson, Matthew Bakkom, Victoria Brooks, Gerard Byrne, Moritz Fehr, Igor Grubic, Dan Kidner, Nikos Papastergiadis und Oraib Toukan. Die in der Secession präsentierte Version beinhaltet Beiträge von Daniel & Marie Law Adams, Rosa Aiello, Matt Bakkom, Rosa Barba, Eric Baudelaire, Beat Detectives, John Beattie, Ericka Beckman, Maeve Brennan, Andreas Bunte, Duncan Campbell, Matija Debeljuh, Dennis Del Favero, Willie Doherty, Jeanette Doyle, Moritz Fehr, Diego Ferrari, Darko Fritz, Rene Gabri & Ayreen Anastas, Mariam Ghani & Chitra Ganesh, Ross Gibson, Judith Goddard, Jennie Guy, Louis Haugh, Kathy High, Klara Hobza, Jere Ikongio & Katja Kellerer, Ivan Marusic Klif, John Lalor, Charles Lim, Jeanne Liotta, Lovid, Hrvoje Mabic, Nicholas Mangan, Fiona Marron, Ed Mattiuzzi, Peter Maybury, Ronan McCrea, Conor McGarrigle, Toni Mestrovic, Abinadi Meza, Suzanne Mooney, Nadija Mustapic, Arnont Nongyao, Tadhg O’Sullivan, Dietmar Offenhuber, Matt Parker, Jack Phelan, Piyarat Piyapongwiwat, Jason Quinlan, Eugenia Raskopoulos, Lucy Raven, Ben Rivers, Karl Ingar Røys, Adam Sekuler, Craig Smith, Michael Bell Smith, Sean Snyder, Stephanie Spray, Danae Stratou, Daniel Von Sturmer, Jose Carlos Teixeira, Leslie Thornton, Gabriele Trapani, Sara Velas, Clemens von Wedemeyer, Grace Weir, Jeremy Welsh, Krzysztof Wodiczko und Tintin Wulia.

 

A Visibility Matrix wurde unterstützt vom Arts Council of Ireland / An Chomhairle Ealaíon.

 

Ausstellungsgespräch

Veranstaltungen
27.03.2019 | 18:00
Gerard Byrne im Gespräch mit Willem de Rooij
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Künstler*innen
Gerard Byrne

geboren 1969 in Dublin, lebt und arbeitet in Dublin.

Programmiert vom Vorstand der Secession

Kuratiert von
Bettina Spörr (Secession)

Vereinigung bildender Künstler*innen Wiener Secession
Friedrichstraße 12
1010 Wien
Tel. +43-1-587 53 07