Delaine Le Bas
Incipit Vita Nova. Here Begins The New Life/A New Life Is Beginning
30.6. – 3.9.2023
Delaine Le Bas arbeitet inter- und transdisziplinär: sie verbindet visuelle, performative und literarische Praktiken zu einem alle Lebensbereiche umfassenden künstlerischen Oeuvre. In ihren Arbeiten behandelt sie viele Facetten, politische wie private und emotionale, die die Zugehörigkeit zum Volk der Rom*nja, deren Geschichte und reiches kulturelles Erbe mit sich bringen. Einerseits bedient sie sich „klassischer“ Formen und Techniken, insbesondere textiler Techniken wie Stickerei und Applikationen, die in Verbindung mit großgeblümten Stoffen und phantastischen Bildwelten sogleich auch mit Klischees und Stereotypen in Verbindung gebracht werden. Gleichzeitig unterläuft Le Bas ihre eigene dekorative Ästhetik, indem sie ihre Kämpfe offen erkundet und sich auf diese Weise stereotypischen Beschränkungen widersetzt.
In ihren Ausstellungen inszeniert sie Räume und erzeugt Stimmungen, Arbeiten und Artefakte verschmelzen zu einem Gesamtbild. Ihren Umgang mit Materialien könnte man auch als nachhaltig bezeichnen: Sie arbeitet mit allen Mitteln, pragmatisch und erfindungsreich, mit gefundenen Objekten, Malerei, Film, Zeichnung, Stickerei, Skulptur und Video. Manche Ausstellungen sind gezeichnet von sehr persönlichen und biografischen Auseinandersetzungen, wieder andere behandeln stärker strukturelle und politische Themen, wie beispielsweise die gesellschaftliche Stellung, Diskriminierung und Ausgrenzung marginalisierter Gruppen.
Die Ausstellung in der Secession ist nicht das erste Mal, dass ihre Arbeiten in Österreich zu sehen sind. Die Künstlerin hat häufig in Wien und Graz ausgestellt, mehrfach auch im Rahmen der Wiener Festwochen. 2011 hat sie mit ihrem verstorbenen Mann vor dem Parlament die Installation Safe European Home? geschaffen und darin Themen wie Roma Holocaust, Rassismus, Vertreibung, erzwungenes Nomadentum, ungleichen Zugang zu Bildung, unzureichende humanitäre Rechte und deren Auswirkungen behandelt und letztendlich Rechte für alle Minderheiten eingefordert.
Delaine Le Bas beschäftigt sich in ihrer feministisch-künstlerischen Praxis schon lange mit besonderen Frauenfiguren wie Göttinnen, Seherinnen und Hexen. Vor kurzem erst installierte sie im Garten des Maxim-Gorki-Theaters in Berlin eine riesige Göttin und verwandelte den Ort so in einen der Besinnung, Begegnung und Bewusstseinserweiterung, an dem in Workshops, Gesprächen, Ritualen und Zeremonien die Kultur des Postpatriarchats geübt wurde. Daher verwundert es nicht, dass die mythologische Bildsprache Klimts im Beethovenfries, insbesondere die dämonisierten Frauenfiguren wie die Gorgonen, bei ihr auf Resonanz gestoßen sind: In den Skizzenbüchern der Künstlerin, die im Vorfeld zur Ausstellung entstanden sind, finden sich zahlreiche Skizzen, die ihre Interpretation von Motiven aus dem Fries zeigen.
„Wie eine Grabkammer“ beschrieb die Künstlerin den Raum, der heute den Beethovenfries beherbergt, bei einem Besuch zur Vorbereitung ihrer Ausstellung in der Galerie, den Ausstellungsräumen im Untergeschoss, die sich unbemerkt von Besucher*innen Wand an Wand um dieses Hauptwerk von Gustav Klimt schmiegen. Dass es neben dieser räumlichen Nähe eine Verwandtschaft zwischen Klimts Fries und der Installation von Le Bas gibt, entspringt weniger einer gezielten Auseinandersetzung mit dem Werk des Vorgängers als vielmehr der Gemeinsamkeit der Auseinandersetzung mit großen Themen des Menschseins: Im aktuellen Fall geht es um Tod, Verlust und Erneuerung.
Es ist sicher kein Zufall, dass sich die Künstlerin in dieser Ausstellung der transzendentalen Glaubenswelt der Antike zuwendet, als die Verbindung der Lebenden mit den Toten noch spürbar war, als die Grenze zwischen Unterwelt und Reich der Lebenden durchlässig war – man denke nur an Orpheus und Eurydike. Für die Künstlerin, die immer kritisch zu mehr oder weniger unterschwelligen Tendenzen in der Gesellschaft arbeitet und eine wachsame Beobachterin und Chronistin von gesellschaftlichen Veränderungen – insbesondere von Intoleranz und Rassismus – ist, stand ein persönliches Verlusterlebnis am Anfang dieser Arbeit: das Ableben der Großmutter, der wichtigsten Bezugsperson und Unterstützerin. Incipit Vita Nova thematisiert eine Zäsur, eine Befragung, einen Neuanfang. Dass es Le Bas auch bei dieser Auseinandersetzung um die feinen Nuancen geht, spiegelt sich im zweiten Teil des Titels wieder, der bewusst zwei mögliche Übersetzungen des lateinischen Satzes anbietet: Hier beginnt das neue Leben / Ein neues Leben beginnt.
Die gleichnamige Installation ist ein Gesamtkunstwerk aus Malerei, Skulptur, Architektur, Text, Performance, Sound, Licht und Textilem, die sich über alle drei Räume zieht. Für diese choreografierte Bewegung im Raum hat die Künstlerin in Zusammenarbeit mit Lincoln Cato eine formal stringente Szenografie mit zahlreichen Objekten, die zwischen Möbel und Kultobjekt angesiedelt sind, entwickelt.
Ein Boden aus festem Baumwollstoff ist die formale Klammer zwischen den drei Räumen, er dämpft die Schritte und trägt zu einer introspektiv-konzentrierten Stimmung bei. Das zentrale Element für die räumliche Organisation sind transparente, bemalte Stoffe, mit denen Korridore und abgetrennte Räume geschaffen werden, als zarteste und durchlässigste Form der Architektur, zudem offen für das intensive von der Künstlerin inszenierte Licht- und Schattenspiel, das schablonenhafte Figuren zum Leben erweckt. Die Malerei auf den Stoffbahnen ist silhouettenhaft, figurativ und oft repetitiv und greift somit ein formales Charakteristikum des Beethovenfrieses auf, das vor allem bei den Genien, den guten Geistern, auffällt.
Als Besucher*innen machen wir uns in der Gefolgschaft der Künstlerin auf die Reise in eine unbekannte Zwischenwelt, an deren Ende (bestenfalls) Selbsterkenntnis steht: Wir beginnen in einem Raum, dessen mit Silberfolie ausgekleideten Wände, die wie in einem Spiegelkabinett mit jedem Schritt andere, verzerrte Bilder in den Raum werfen. Alles ist fluide und in ständiger Veränderung. Eine aus transparentem Stoff genähte und mit Heu ausgestopfte Form stellt lebensgroß ein Pferd dar – Modell war das Pferd des Großvaters, – daneben rote Fellstiefel, eine vergrößerte Nachbildung ihrer ersten Schuhe. Ein Foto des Pferdes und die Original-Babyschühchen standen immer im Schrank der Großmutter, als biografische Referenzen stehen sie nun am Anfang der Ausstellung – und des Weges.
In der Nische links hängen mit schwarzer Farbe bemalte Kostüme aus weißem Organdy (Glasbatist), einem Lieblingsmaterial von Le Bas, das aufgrund spezieller Behandlung transparent und gleichzeitig sehr steif ist. Sie sind Reminiszenzen der Performance, die die Künstlerin am Eröffnungsabend zusammen mit Performer*in Hera Santos ausgeführt hat. Der mittlere Raum ist dem Chaos gewidmet und der Frage „How can you make art in chaos?” – Wie kann man in Zeiten des Chaos Kunst machen? Das führt wiederum zur Frage, welche Funktion und Rolle wir der Kunst in schwierigen Zeiten überhaupt zutrauen. Im letzten Raum verjüngt sich ein langer Korridor aus bemalten Stoffbahnen nach hinten und trennt einen eigenen Raum ab, den man vielleicht als Tor zur Unterwelt beschreiben könnte. Hier, am Ende der Ausstellung, gelangt man schließlich zur Pythia, der Hohepriesterin des Apollontempels von Delphi. „Bevor den Pilgern oder Ratsuchenden im Orakel von Delphi Audienz gewährt wurde und sie vor die Pythia treten durften, mussten sie sich mit sich selbst auseinandersetzen und sich selbst hinterfragen. ‚Erkenne dich selbst‘ stand in goldener Inschrift auf einer Säule an der Schwelle zum Tempel. Der Leitsatz diente als Ermahnung, dass Weisheit, Verständnis, Empathie und alles, was auch nur annähernd innerem Frieden gleicht, ohne Selbsterkenntnis, Selbstreflexion und gnadenlose Selbstkritik unerreichbar seien.“ (Stephen Ellcock im Buch zur Ausstellung)
Szenografie: Delaine Le Bas mit Lincoln Cato
Soundscape: Justin Langlands
Film: Delaine Le Bas & Laszlo Farkas
Delaine Le Bas dankt dem Wysing Arts Centre, wo sie im Zuge einer Residency Anfang 2023 die meisten Werke, Fotografien und Filmaufnahmen realisierte.
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geboren 1965 in Worthing, Großbritannien, lebt und arbeitet ebenda.