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Chen Chieh-jen
Worn Away
30.6. – 3.9.2023

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Chen Chieh-jen, Worn Away, 2022-23, Produktionsfoto: Chen You-wei, Courtesy Chen Chieh-jen Studio

In der Welt dieses Systems

Zu der es keine Alternative gibt,

Werden wir letztendlich alle

Aussortiert werden.

Der einzige Unterschied ist,

Ob wir auf dieser Seite der Mauer stehen

Oder auf jener

Oder möglicherweise in der Wartezone ausharren

Bis zur Auslöschung.

 

Innerer Monolog des Hauptdarstellers, zitiert aus dem Chen Chieh-jens Konzeptpapier zu Worn Away.

 

Chen Chieh-jen, einer der renommiertesten Vertreter der taiwanesischen Kunstwelt, ist seit den frühen 1980er-Jahren künstlerisch aktiv und präsentiert sein Werk in internationalen Ausstellungen. Mit seiner aktionistischen Performance Dysfunction No. 3 (1983) erweckte er schon früh die Aufmerksamkeit der lokalen Szene. In Häftlingskleidung mit ins Gesicht gezogenen Kapuzen zogen Chen und seine Mitstreiter*innen durch die Straßen Taipehs und setzten so nicht nur einen Akt zivilen Ungehorsams gegen die staatliche Kontrolle, sondern schufen in Zeiten der Unterdrückung auch einen öffentlichen Raum: Von 1949 bis 1987 herrschte in Taiwan das Kriegsrecht, ein Ausnahmezustand, unter dem freie Meinungsäußerung und öffentliche Versammlungen verboten waren. Das antikommunistisch ausgerichtete Kriegsrecht grenzte das Land zur benachbarten Volksrepublik China ab und führte zur Etablierung eines Einparteiensystems, in dem Militär und Geheimpolizei die Kontrolle übernahmen. In seinem vielschichtigen Werk nimmt Chen immer wieder Themen wie die japanische Herrschaft über Taiwan in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Verbundenheit des Landes mit den USA während des Kalten Krieges sowie die gegenwärtige Neoliberalisierung zum Ausgangspunkt.

 

Seit er sich Mitte der 1990er-Jahre der Fotografie und insbesondere dem Film zugewandt hat, beschäftigt sich der Künstler mit den unterschiedlichen Ausprägungen der Kolonisierung, den Mechanismen der Marginalisierung, der Ausbeutung von Arbeitskräften und den vielfältigen offenen wie verdeckten Formen staatlicher Kontrolle. Ein Charakteristikum in seinen filmischen Arbeiten ist die jeweilige Eigenart eines ‒ realen wie auch inszenierten ‒ Ortes. So dient etwa für Empire’s Borders I (2008‒09) ein nachgebautes Amtsbüro als Kulisse, vor der eine ausschließlich weibliche Besetzung die gängige Praxis der demütigenden Befragung und willkürlichen Entscheidungsfindung bei Anträgen für Reisevisa nachstellt. Der Künstler hat in seinen Projekten immer wieder mit Communities zusammengearbeitet, darunter mit Bewohner*innen von Heilanstalten, arbeitslosen Fabriksarbeiter*innen, Migrant*innen und chinesischen Ehepartner*innen. Chen Chieh-jen setzt auf Gemeinschaft und erforscht mit seiner Arbeit nicht nur Formen des kollektiven Widerstands, sondern untersucht ebenso die Verstrickungen Taiwans in einer globalisierten Weltordnung unter der Schirmherrschaft des Neoliberalismus.

 

In seinem jüngsten Film Worn Away (2022–23), der Teil des Langzeitprojekts Her and Her Children ist, zeichnet Chen ein dystopisches Bild einer Gesellschaft, die unter dem neoliberalen Regime multinationaler Konzerne in einer sogenannten „Corporatocracy“* lebt, und leidet: Ein global agierendes „Imperium“ kontrolliert das Internet und ist somit tonangebend bei der Propagierung der Leistungsgesellschaft als allgemeingültiges Modell. Während die Verteilung von Vermögen und Wohlergehen immer ungleicher wird, sind, ganz nach Orwellschem Muster, Überwachungstechnologien und Kontrollmechanismen allgegenwärtig – mit entsprechenden Folgen: Immer mehr Menschen, die arbeitslos, psychisch erkrankt, nicht kreditwürdig oder unangepasst sind, stehen vor ihrem Ausschluss aus der Gesellschaft. Ihrer Menschenwürde beraubt und vor dem Hintergrund ihrer drohenden sozialen Nichtigkeit, wenden sie sich an das sogenannte „Hilfsprogramm für die Optimierung der biologischen Funktion“, das von den herrschenden Unternehmen betrieben wird, und gelten fortan nur noch als „Material“ für wissenschaftliche Experimente. Das System hat die Deutungshoheit über Echt- oder Falschheit von Information und somit die Mechanismen der Manipulation der Massen in der Hand. Gefangen in den vom System geschaffenen, labyrinthischen Räumen der Desorientierung, wird es einer Mehrheit der Menschen immer unmöglicher, zwischen Realität und Manipulation sowie Recht und Unrecht zu unterscheiden und somit ihre Kritikfähigkeit zu bewahren. Angesichts der totalen Ausbeutung eine fatale Situation.

 

Als Künstler, der sich der Wirkmacht von Bildern bewusst ist und als Filmemacher damit seiner Verantwortung, setzt Chen Chieh-jen diesem trostlosen Szenario mit einigen strukturellen, gestalterisch-inhaltlichen Entscheidungen bewusst etwas entgegen und zeigt alternative Handlungsmuster zu den in seiner Filmerzählung postulierten Maximen des Neoliberalismus auf. Etwa, indem die Produktion des Films inklusiv ist: So bilden die Protagonist*innen seines Films genau jene Personengruppen ab – Arbeitslose, Migrant*innen, psychisch Erkrankte –, die in der Filmerzählung (wie in der Realität) als wertlos betrachtet und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Chen verleiht diesen Gruppen mit seiner diversen Filmbesetzung jedoch eine Plattform, eine Stimme, Sichtbarkeit. Mit den inneren Monologen der Darsteller*innen, die voller Zweifel am System sind und von dessen Praktiken der Manipulation sowie Umgang mit den Ausgestoßenen berichten, gelingt es dem Regisseur, das Narrativ des Imperiums umzudeuten und die Illusion einer prachtvollen Zukunft zu dekonstruieren. Anleihen findet er hierfür im historisch-kulturellen Umgang mit Illusion und Täuschung, in der östlichen Philosophie und Religion, insbesondere im buddhistischen Maya-Konzept, das die gesamte Erscheinungswelt – Realität und Illusion – umfasst und das Potenzial birgt, die Gleichheit aller Wesen als Gegenbild zu etablieren.

 

* Der Begriff Corporatocracy (dt. Konzernherrschaft) beschreibt die Verfilzung von Unternehmen und Politik. In seinem Konzeptpapier führt Chen etwa transnationale Finanzkonglomerate, die Waffenindustrie sowie Digital- und Biotech-Giganten als Beispiele involvierter Unternehmen an.

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Chen Chieh-Jen

Chen Chieh-jen, Foto: Iris Ranzinger

Chen Chieh-jen, Foto: Iris Ranzinger


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Künstler*innen
Chen Chieh-jen

geboren 1960 in Taoyuan, Taiwan. Lebt und arbeitet in Taipeh, Taiwan.

Programmiert vom Vorstand der Secession

Kuratiert von
Jeanette Pacher (Secession)

Vereinigung bildender Künstler*innen Wiener Secession
Friedrichstraße 12
1010 Wien
Tel. +43-1-587 53 07