Bouchra Khalili
13.4. – 17.6.2018
Europa ist unfähig, die beiden Hauptprobleme zu lösen, die durch seine Existenz entstanden sind: das Problem des Proletariats und das koloniale Problem. Wenn Europa also nicht aus eigener Initiative eine neue Politik entwickelt, die auf Respekt für andere Menschen und Kulturen gründet, wird sich Europa, seine Hände über sich gebreitet, selbst seiner letzten Möglichkeit beraubt haben, den Mantel der tödlichen Finsternis zu heben.
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In ihrer ersten Einzelausstellung in Österreich zeigt die marokkanisch-französische Künstlerin Bouchra Khalili ihre Videotrilogie The Speeches Series (2012–13), einen Teil der Mixed-Media-Installation Foreign Office (2015) und The Tempest Society (2017), einen 60-minütigen Film, der auf der documenta 14 in Athen und Kassel seine Premiere hatte. Die Geschichte der internationalen Solidarität zieht sich als narrativer roter Faden durch die Ausstellung, insbesondere der Antikolonialismus und internationale revolutionäre Befreiungsbewegungen, die gesellschaftlich marginalisierte Gruppen stärken und ihre Emanzipation herbeiführen wollten.
Foreign Office richtet das Augenmerk auf die Dekade unmittelbar nachdem Algerien die Unabhängigkeit erlangt hatte und sich Algiers zwischen 1962 und 1972 zu einer Art Mekka für Revolutionäre entwickelte. Zahlreiche internationale Befreiungsbewegungen ließen sich dort nieder, die Black Panther Party etwa, Nelson Mandelas African National Congress ANC, die Bewegung zur nationalen Befreiung Palästinas und die Volksbewegung zur Befreiung Angolas. Das Video bietet dank seiner Protagonisten – eine junge Frau und ein junger Mann aus Algerien, die diese weitgehend vergessene Geschichte entdecken und erforschen – und dem Mittel der filmischen Montage eine neue Perspektive auf die Geschichte des Internationalismus. Der Siebdruck The Archipelago wiederum zeigt einen abstrahierten Plan von Algiers, der die geografische Verteilung der Niederlassungen unterschiedlicher Befreiungsbewegungen in der Stadt widerspiegelt. Diese (historischen) Orte sind auch Gegenstand der Serie an Fotografien, die Bouchra Khalili 2015 machte. Im Mittelpunkt des Foto-Triptychons, das in der Secession gezeigt wird, steht der algerische Dichter, Dramatiker und Romanautor Kateb Yacine (1929–1989). In den Bildern hallt das dritte Kapitel des Films nach, in dem die Rolle von Dichtung und Sprache für die geschichtliche Überlieferung erörtert wird.
Die Videotrilogie The Speeches Series wird auf Monitoren in verschiedenen Räumen der Ausstellung präsentiert, wodurch die Videos eine verbindende Rolle spielen. Jedes ihrer drei „Kapitel“ besteht aus fünf Reden, die von jeweils fünf ProtagonistInnen, mal in ihrer Muttersprache vorgetragen, immer aus dem Gedächtnis wiedergegeben werden. Die Reden im ersten Video, Mother Tongue, sind Auszüge aus politischen und poetischen Texten, die von den ProtagonistInnen ausgewählt wurden, und kreisen um Sprache und Widerstand; das zweite Video Words on Streets konzentriert sich auf die Frage der Bürgerschaft in der globalisierten Welt heute, während im letzten Kapitel Living Labour die Situation von in den USA lebenden Arbeitskräften ohne gültige Papiere im Speziellen und der Zusammenhang von Sprache, Bürgerschaft und Klassenzugehörigkeit im Allgemeinen betrachtet wird.
The Tempest Society ist weder Dokumentar- noch Spielfilm, sondern eine Hypothese. Im heutigen Athen gründen drei Personen mit unterschiedlichem Hintergrund eine Theatergruppe. Gemeinsam mit ihrem Publikum sind sie bestrebt, auf der Bühne als öffentlicher Ort der BürgerInnen, den aktuellen Zustand von Griechenland, Europa und dem Mittelmeer zu erkunden. Als Tribut an die legendäre Pariser Theatergruppe Al Assifa (Arabisch für „Der Sturm“, engl. „The Tempest“), die sich aus nordafrikanischen Arbeitsmigranten und französischen Studenten zusammensetzte und in den 1970er-Jahren den täglichen Kampf gegen Ungleichheit und Rassismus in Frankreich in Form der „theatralischen Zeitung“ thematisierte, geben sie sich den Namen The Tempest Society. Auf einer Bühne im Athen der Gegenwart rufen Mitglieder der Tempest Society und ihre Gäste – Ghani, ein Mitglied und Sprecher von 300 Arbeitsimmigranten, die sich im Hungerstreik befinden; Katerina, die in Griechenland geboren wurde und dennoch ohne Papiere ist, und Malek, ein junger syrischer Flüchtling – gemeinsam zu Gleichheit, (staats)bürgerliche Zugehörigkeit und Solidarität auf.
Insgesamt sind in der Ausstellung rund zweieinhalb Stunden Filmmaterial zu sehen.
Die aktuelle Praxis des Dokumentarischen treibt Bouchra Khalili, die heuer gleich für zwei international renommierte Auszeichnungen nominiert ist, dem Hugo Boss Prize und dem Artes Mundi Award, mit ihrer klaren und formal präzisen Bildsprache in ihren Videos und Fotografien sowohl ethisch als auch ästhetisch voran. Mit ihren Arbeiten, die man als visuelle Essays betrachten kann, schreibt die Künstlerin eine Art „alternativer Geschichte“. Diese stellt der kollektiven eine individuelle Geschichte gegenüber, die von Mitgliedern gesellschaftlicher Minderheiten selbst erzählt wird. Mit diesen Geschichten, die hegemoniale Narrative hinterfragen und oft aus vernachlässigten Perspektiven erzählt werden, stellt Khalili die Verbindungen von kolonialer und postkolonialer Geschichte und die gegenwärtigen Debatten zu globalen Migrationsbewegungen zur Diskussion.
Wir freuen uns besonders, die Österreich-Premiere von Twenty-Two Hours (2018), Bouchra Khalilis neuem Film, den sie im Rahmen eines Stipendiums im Radcliffe Institute an der Harvard University, Boston, Mass entwickelte, ankündigen zu können.
Die USA-Reise von Jean Genet im Jahr 1970 ist Ausgangspunkt des Filmes Twenty-Two Hours. Einem Aufruf zur Solidarität der Internationalen Sektion der Black Panther Party folgend war der französische Romanautor, Dichter und Dramatiker heimlich in die USA gereist und verbrachte dort zwei Monate mit den Black Panthers, um sie in ihrem Kampf für eine vereinte Emanzipation und Gleichberechtigung zu unterstützen.
Im Film stellen zwei junge afroamerikanische Frauen heute Recherchen zu Genets Engagement für die Black Panther Party an und fragen sich, welche Rolle er in Hinblick auf die BPP einnahm. War er Sympathisant? Ein Verbündeter? Oder ein Zeuge?
geboren 1975 in Casablanca, Marokko, lebt und arbeitet in Berlin. Sie ist Professorin für zeitgenössische Kunst an der Nationalen Akademie der Künste in Oslo.