Beatriz Santiago Muñoz
Elogio al disparate
6.12.2024 – 23.2.2025
„Ich liebe den Nichtfilm, den Beinahe-Film, den kaputten Film, den überlangen Film, den Film mit sichtbaren Rissen, den Film, der seine Eingeweide raushängen lässt. Ich stehe auf überraschende formale Entscheidungen wegen ihres poetischen Potenzials, und vor allem stehe ich auf Filme, die selbstverständliche Erwartungen, ob an Plot, Kontinuität oder Sinn, umstürzen.“ (Beatriz Santiago Muñoz, Frieze, Nr. 199, 2018)
Beatriz Santiago Muñoz ist zutiefst überzeugt vom transformativen Potenzial der Kamera, die Welt anders zu denken und vermeintlich fixe Bedeutungen neu zu verhandeln. Im Mittelpunkt ihrer drei in der Secession gezeigten Filme steht dabei ausgerechnet der Unsinn. Die neu entstandenen Werke wurden auf 16-mm-Film gedreht und dann auf Video transferiert. Sie nutzen freies Assoziieren und einen spielerischen Umgang mit Form, um Beziehungen zwischen Ton und Bild herzustellen, die sich einer rationalen Sinnsuche bewusst entziehen.
Die drei Filme wurden von jitanjáforas inspiriert – erfundenen sinnlosen Wörtern, die in der Dichtung und Musik der Karibik im 20. Jahrhundert in überbordender Vielfalt zum Einsatz kamen. Ihre poetischen Dimensionen entfalten diese spekulativen Wörter vor allem in ihren phonetischen Eigenschaften. Dabei erheben sie Chaos, Dissonanz und revolutionären Geist über reaktionäre Konzepte fester Wahrheiten, die den politischen und gesellschaftlichen Status quo sichern.
Auch Muñoz’ Filme erfinden „neue Wörter“. Mit ihrem Fokus auf Rhythmus, Form, Klang und Bewegung durchbrechen sie lineares Geschichtenerzählen und die traditionelle Produktion von Bedeutung. Der Titel Elogio al disparate (Lob des Unsinns) bezieht sich auf einen kurzen Essay des peruanischen Marxisten José Carlos Mariátegui (1894–1930) über die Gedichte des peruanischen Autors Martín Adán (1908–1985). Mariátegui hebt das Potenzial des Unsinns hervor, Heuchelei und die Philosophie der alten Ordnung zu entlarven; die von ihm ausgehende Störung könne deren Auflösung beschleunigen.
Muñoz’ Praxis dreht sich vor allem um ihre Heimat Puerto Rico, mit Verweisen auf haitianische Poetik und feministische spekulative Fiktionen. Die Insel gilt als älteste Kolonie der Welt; nach mehr als vier Jahrhunderten spanischer Herrschaft wurde sie 1898 im Zuge des Spanisch-Amerikanischen Krieges durch die USA besetzt. Puerto Rico ist in erster Linie durch exotisierende Darstellungen bekannt, Muñoz hingegen setzt sich mit ihren politischen und ökologischen Krisen, mit Gentrifizierung und Vertreibung sowie mit ehemals militärisch genutzten Räumen auseinander. Um alternative Erzählungen zu formulieren, arbeitet die Künstlerin oft mit Laiendarsteller*innen vor Ort zusammen. Darunter sind Aktivist*innen oder Heiler*innen, die sie einlädt, Ereignisse aus ihrer eigenen Populärkultur, aus Geschichte und Indigener Mythologie nachzustellen.
Muñoz’ Arbeiten wurzeln in Langzeitbeobachtungen, einer in der Ethnologie und im Dokumentarfilm verbreiteten Herangehensweise. Gleichzeitig setzt die Künstlerin Film nicht im Sinne eines klassischen Realismus ein, sondern als Form der Poesie. Dazu macht sie sich die Sprache von Theater und Expanded Cinema zu eigen und verwischt bewusst die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion. Indem sie Improvisation und Zufall Raum gibt, erkundet sie Potenziale für das Neuschreiben von Geschichte.
Der verwirrende und doch lebendige Zustand, der sich einstellt, wenn das Bestehende aus den Fugen gerät, neuer Sinn sich aber noch nicht entwickelt hat, mag in seiner Beliebigkeit Unbehagen auslösen – in Muñoz’ neuen Filmen gibt es keinen festen Anhaltspunkt, keine Logik, keinen Grund –, aber er ist auch voller alternativer Deutungen, Erfindungen und Möglichkeiten. Oder wie es die Künstlerin formuliert: „Ich versuche, die Auflösung einer Ordnung, die sich zu sehr auf die Vernunft verlässt und so womöglich den Blick versperrt, wenigstens ein Stück weit voranzutreiben.“
Zur Ausstellung Elogio al disparate erscheint eine Publikation, die ein via E-Mail geführtes Gespräch zwischen der Künstlerin und der puerto-ricanischen Schriftstellerin Claudia Becerra dokumentiert. In diesem Dialog tauschen sie sich über das Konzept des Nicht-Sinns und die jitanjáforas aus, lassen sich gemäß der freien Assoziation treiben und widerstehen dem Drang, allem Form oder Bedeutung verleihen zu wollen. Im Mittelpunkt dieses Austausches stehen Textpassagen und Gedichte von lateinamerikanischen Autor*innen wie Clarice Lispector, Alfonso Reyes, Alejandra Pizarnik, Mariano Brull, Francisco Matos Paoli, César Vallejo, José Carlos Mariátegui, Martín Adán und Bobby Capó. Ihre Texte werden als herausnehmbares Buch im Buch präsentiert und formen die künstlerische Intervention.
*1972 in San Juan, Puerto Rico, lebt und arbeitet in San Juan.